Orthodoxie im Ukraine-Krieg: Welche Rolle die Kirche spielt

Der Ukraine-Krieg vertieft die Spaltung zwischen den orthodoxen Kirchen. Das Grundübel ist die Verquickung von kirchlicher Existenz und Politik. Ein Interview.
Seit über 100 Tagen hat der Ukraine-Krieg nicht nur politische und gesellschaftliche Auswirkungen, sondern auch religiöse Folgen. Martin Bräuer vom Konfessionskundlichen Institut in Bensheim spricht im FR-Interview über die Schwierigkeiten im Umgang mit der russisch-orthodoxen Kirche und der wachsenden Kluft zur orthodoxen Kirche in der Ukraine.
Herr Bräuer, die Orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine scheinen derzeit eher mit dem Teufel der Zwietracht als mit Gott beschäftigt zu sein. Ob sie wohl zu Pfingsten um Erleuchtung durch den Heiligen Geist beten?
Ich denke schon, das machen sie in jeder Liturgie.
Welche Rolle spielt die Religion in der Ukraine und in Russland?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es ein ideologisches Vakuum. Der Kommunismus als ideologischer Überbau hatte abgewirtschaftet, die Menschen waren auf der Suche nach neuer Sinnstiftung. In diesen leeren Raum konnte die orthodoxe Kirche vorstoßen.
In sozialistischen Zeiten war die Kirche marginalisiert?
Im Sozialismus war Religion offiziell nicht vorgesehen. Die Kirche wurde in unterschiedlicher Intensität unterdrückt und verfolgt. Besonders hart unter Stalin, im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler dann etwas weniger, weil man sie brauchte, und seit den 50er Jahren fristete sie ein Nischendasein. Unter Gorbatschow billigte man ihr wieder mehr Freiheiten zu und nach dem Fall der Sowjetunion in den 90er Jahren konnte sie richtig erstarken.
Orthodoxe Kirchen in Russland und der Ukraine: Das ist der Unterschied zu Christentum im Westen
Wie viele Menschen in Russland und der Ukraine bekennen sich denn zur orthodoxen Kirche?
Die Ukraine ist der gläubigere Teil. Man sagt, dass dort rund zwei Drittel der Bevölkerung Mitglied in einer der orthodoxen Kirchen sind – genaue Zahlen gibt es nicht. In Russland zählen sich zwar auch etwa 75 Prozent der Bevölkerung zum orthodoxen Glauben, aber davon geht nur ein geringer Prozentsatz regelmäßig zur Kirche. Das ist ganz anders in der Ukraine.
Was sind die entscheidenden Unterschiede zwischen den orthodoxen Kirchen im Osten und den christlichen Kirchen im Westen?
Die orthodoxen Kirchen sind im Oströmischen Reich entstanden. Die abendländische Kirche und die Kirche im byzantinischen Reich haben sich im 11. Jahrhundert getrennt. Von Byzanz aus hat sich das Christentum im ostslawischen Gebiet verbreitet. Während unsere westlichen Kirchen stärker rational geprägt sind, vom Kopf her, sind die orthodoxen Kirchen mehr von der Emotion geprägt. Ihr Zentrum ist die Feier der Liturgie, ihre Theologie drückt sich stärker im Gottesdienst aus als bei uns im Westen. Der Gottesdienst wird verstanden als Teilnahme an der himmlischen Liturgie, Ikonen zum Beispiel sind nicht nur Porträts, sondern gelten auch als ein Fenster in den Himmel.

Ukraine-Krieg: Diese Rolle spielen die orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine
In der Ukraine wird der Krieg nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch unter den Gläubigen ausgetragen. Dabei geht es um drei Kirchen: Um die russisch-orthodoxe Kirche in Russland, um deren Ableger in der Ukraine und um die unabhängige ukrainisch-orthodoxe Kirche. Warum gibt es zwei orthodoxe Kirchen in der Ukraine?
Ich muss Sie an einer Stelle berichtigen. Die eine Kirche, die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, ist kein Ableger Moskaus. Sie war zwar ursprünglich in das Moskauer Patriarchat eingebunden, aber 1992 wurde ihr vom Moskauer Patriarchat die Autonomie gewährt. Die andere Kirche ist die Orthodoxe Kirche in der Ukraine, die 2018 gegründet wurde und von der russisch-orthodoxen Kirche in Russland und der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats nicht anerkannt wird.
Aber von anderen Teilen der Orthodoxie?
Genau. Aber bisher nur von 4 der 14 selbstständigen orthodoxen Kirchen. Der Patriarch von Konstantinopel, Ehrenoberhaupt der gesamten Orthodoxie, hat der ukrainisch-orthodoxen Kirche die Autokephalie 2019 gewährt, das heißt die Unabhängigkeit und ein eigenes Kirchenoberhaupt. Die russische Kirche ist aber der Meinung, dass die Ukraine zu ihrem sogenannten kanonischen Territorium gehört...
...und das heißt was?
Dass der Patriarch von Konstantinopel dort nichts zu sagen habe, weil die russisch-orthodoxe Kirche die Ukraine als ihr angestammtes Gebiet betrachtet. Es ist ein orthodoxes Prinzip, dass in einem Territorium nur ein Bischof, das heißt nur eine Kirche existieren kann.

Krieg in der Ukraine, Unfrieden zwischen den Kirchen: Russische Kirche befürchtet Verlust von Gläubigen
Dass die Kirche in Russland einen Anspruch auf das Gebiet der Ukraine erhebt, klingt wie Putin-Sprech. Warum will sie um des Friedens willen nicht darauf verzichten?
Mit der Ukraine würde die Russische Kirche einen großen Teil ihrer Gläubigen verlieren und könnte nur noch schwer sagen: Das sind ein paar wenige Abweichler, die dem Druck von „externen Mächten des Bösen“ nicht standgehalten haben. Außerdem hat Kiew als Ursprungsort des Christentums in der Region einen spirituellen Wert für die russische Kirche.
Aber verlassen nicht bereits viele ukrainische Christen die russisch-orthodoxe Kirche?
Das stimmt so nicht! Erstaunlicherweise läuft nur ein geringer Teil der Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine zur Orthodoxen Kirche in der Ukraine über. Das hat damit zu tun, dass die Gültigkeit der Weihen und damit der Sakramente in dieser Kirche ungeklärt ist.
Welche Rolle spielt der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill, der ja ein Waffenbruder Putins ist?
Patriarch Kirill vertritt gemeinsam mit Putin die Ideologie der „Ruski mir“, der Einheit der russischen Welt, die sich von der verderbten westlichen Welt abgrenzen muss. Diese Ideologie wird vom Patriarchen religiös überhöht, Kirill spricht von einem „metaphysischen Kampf gegen das Böse“. In seinem Weltbild stehen Gay-Paraden für das Böse, das unbedingt verhindert werden muss. Kirill betont weiter wie Putin, dass Moskau Deutungshoheit über die Ukraine habe und er keine souveräne Ukraine kenne. In seinen letzten Predigten ging es immer wieder darum, dass Russland die „eigene“ Bevölkerung schützt, dass die Christen dort verfolgt werden – in einer Predigt sprach er sogar davon, dass Russland nie jemanden angegriffen habe, sondern sich nur verteidige.
Ukraine-Krieg: Ukrainisch-orthodoxe Kirche distanziert sich von Moskau und Kirill
Das hören die ukrainischen Gläubigen, die sich verzweifelt gegen die russischen Aggressoren wehren, sicher gern.
Indem Kirill den Ukraine-Krieg gutheißt, rechtfertigt er ja auch, dass seine eigenen Gläubigen umkommen und deren Kirchen zerstört werden. Und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats befindet sich mitten in dieser Gemengelage. Sie hat sich seit Beginn des Krieges schon gegen Kirills Unterstützung des Krieges gestellt und sich am 27. Mai noch einmal deutlich gegen diese Sicht positioniert und sich von Moskau weiter abgesetzt.
Ist das nicht nur ein taktisches Manöver?
Nein, das geschah unter dem Druck der Situation. Zum einen haben sich inzwischen etliche Diözesen dazu entschlossen, Patriarch Kirill nicht mehr zu kommemorieren, das heißt, im Gottesdienst im Gebet gedenken. Zum anderen gibt es etliche Diözesen, die bewusst zu Kirill halten. Außerdem gibt es den Druck von außen, der diese Kirche als fünfte Kolonne Moskaus bezeichnet. Die Beschlüsse vom 27.Mai sind eine Art Kompromiss: Man wollte sich nun klar von Moskau distanzieren, indem man deutlich machte, dass man Kyrill nicht mehr als Oberhaupt ansieht, aber gleichzeitig blieb man in Gemeinschaft mit Moskau.
Und wo bleibt bei allem die christliche Feindes- oder wenigstens die Bruderliebe?
Wo sollte die sein, wenn man sich gegenseitig abschlachtet? Es gibt einen Aufruf von orthodoxen Kirchen, die Kirills Konzept der russischen Welt als häretisch verurteilen, weil dies nicht mit der christlichen Lehre vereinbar sei. Denn die Liebe Gottes beziehe sich nicht nur auf ein Land oder ein Volk. Diesen Aufruf haben über 1500 orthodoxe Theologen und einige Bischöfe unterschrieben. Auch die deutschen orthodoxen Bischöfe haben ihn unterstützt.
Rolle der Religion im Ukraine-Krieg: Ein Kampf mit „sehr harten“ Bandagen
Kirill ist also ein Ketzer?
Das wird zwar nicht so direkt gesagt, aber seine Positionen werden von einzelnen Theologen als nicht christlich angeprangert.
Kirill ist ein extremes Beispiel toxischer Männlichkeit. Wie patriarchal ist die orthodoxe Kirche?
Es ist eine sehr patriarchal geprägte Männergesellschaft. Die Diskussionen über die Beteiligung von Frauen wie wir sie derzeit im Katholizismus erleben, gibt es bei den slawischen Ostkirchen offiziell nicht. In einigen orthodoxen Kirchen wie in Ägypten und Armenien ist die Weihe von Diakoninnen eingeführt worden, aber die Diskussion stellt sich in den slawischen Kirchen meines Wissens momentan nicht. Nicht nur die Kirchenführer, auch die Gläubigen sind tendenziell eher konservativ.
Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kirchen nehmen bizarre Formen an. Ein Erzpriester wurde wegen „Spaltung und grober Verletzung des Eides eines Geistlichen“ mit Dienstverbot bestraft – quasi exkommuniziert, weil er zur orthodoxen Kirche der Ukraine wechselte. Mit welchen Bandagen wird denn da gekämpft?
Mit sehr harten.
Und welche Rolle spielt die Gemengelage zwischen den Kirchen im Krieg?
Es ist auffällig, dass sich beide Kirchen mit der Ukraine identifizieren und nationale Positionen vertreten. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine argumentiert noch ein Stück nationalistischer. Beide sehen sich auf der Seite des Volkes, das angegriffen wurde und auch die Notwendigkeit, sich zu verteidigen. Dennoch denkt die Politik über Einschränkungen für die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats nach. Die Verquickung von kirchlicher Existenz und Politik ist das Grundübel. (Interview: Bascha Mika)