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Organspende: „Der Spenderausweis hat ihm viel bedeutet“

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Robert Meltzik kurz vor seinem tödlichen Unfall.
Robert Meltzik kurz vor seinem tödlichen Unfall. © privat

Roland Meltzik verunglückt schwer und wird in eine Schweizer Klinik geflogen. Ein Zufall, der für die Witwe des Deutschen zum Trost und für mehrere Kranke ein Segen wird. Von Ursula Rüssmann

Der 9. August 2022 beginnt wie ein weiterer unbeschwerter Tag im Leben von Roland und Melanie Meltzik, diesem agilen, lebensfrohen Rentnerpaar in Südbaden. Erst zwei Tage vorher sind die beiden (ihre Namen haben wir geändert) vom Wohnwagenurlaub in den Pyrenäen zurückgekehrt. Der erfahrene Rad- und Bergsportler hat dort den gut 2100 Meter hohen Col de Tourmalet bewältigt, eine der berühmtesten Tour-de-France-Etappen. Im Mai auf Hawaii haben die beiden den Mauna Loa bestiegen, einer der unzähligen Vier- und Fünftausender auf ihrer langen Gipfelliste.

Dieser Augustdienstag ist eher gemütlich geplant. Roland hat eine kleine Radtour mit Freunden vor, zu Hause will Melanie das Essen vorbereiten. Doch am Vormittag verunglückt der frühere Textilingenieur so schwer, dass sein Leben nicht mehr zu retten ist.

Für seine Frau wird der einzige Trost in dieser Katastrophe sein, dass ihr Mann als grenznaher Notfall in ein Baseler und nicht ein deutsches Krankenhaus geflogen wird. So habe er wenigstens noch Organe spenden können, erklärt sie der FR: „Meinem Mann war das immer sehr wichtig, Organspender zu sein. Bei seinen Verletzungen wäre das aber nach deutschem Recht nicht möglich gewesen.“ Und, sagt sie weiter, „irgendwo lebt er ja in seinen Organen weiter.“

Wie kann man vor der Organspende sicherstellen, dass ein Herzstillstand wirklich unumkehrbar ist?

Die Organspende ist in Deutschland im Transplantationsgesetz (DTG) geregelt. Organentnahmen bei Verstorbenen sind hierzulande nur erlaubt, wenn ein Mensch hirntot ist, was bedeutet, dass die Hirnfunktion unwiderruflich zerstört ist und deshalb auch Herz und Kreislauf versagen. Das kann etwa nach Schlaganfall oder bei schweren Kopfverletzungen passieren, man spricht von sogenannten DBD-Spenden (donation after brain death, Spenden nach Hirntod). Nicht erlaubt sind Organspenden nach Herz-Kreislauf-Tod (DCD – donation after cardiocirculatory death, Spenden nach Herz-Kreislauf-Tod), auch dürfen solche Organe hier nicht transplantiert werden. Die meisten anderen europäischen Länder dagegen, etwa die Schweiz, Österreich, die Niederlande, Spanien, Italien und Frankreich, lassen DCD-Spenden zu. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die auch für Deutschland ein Umdenken fordern.

Wie aber kann man sicher sein, dass ein Herzstillstand in so einem Fall wirklich unumkehrbar ist, bevor Organe entnommen werden, der Tod des betroffenen Menschen also sicher ist? In der Schweiz gilt ein komplexes Regelwerk für die sogenannte „kontrollierte DCD-Spende“. Danach steht am Anfang eine infauste, also aussichtslos Prognose durch die Ärzt:innen, wonach der Mensch in nächster Zeit sterben wird. Es folgt ein Therapieabbruch und erst ganz am Ende, nach der Todesfeststellung, die Entnahme.

Der Herzchirurg Franz Immer ist Direktor der Stiftung Swisstransplant, die in der Schweiz über Organspenden aufklärt und für deren Koordination zuständig ist. Er betont: „Unser Verfahren stellt sicher, dass ein Mensch wirklich tot ist, bevor ihm Organe entnommen werden.“ Auch die Baseler Ärzt:innen handeln bei Roland Meltzik nach der Richtlinie.

Seine Frau Melanie erinnert sich noch genau, wie alles war an dem Dienstag. Als statt ihres Mannes zwei Polizisten mit seinem Rucksack zu ihr kamen. Ihr Mann sei schwer gestürzt und mit dem Rettungshelikopter nach Basel geflogen worden, erfährt sie von ihnen, dann telefonisch von der Klinik die schrecklichen Einzelheiten: Zweiter Halswirbel gebrochen, Rückenmarksverletzung, er musste bereits zweimal reanimiert werden. Er überlebt eine Not-OP, wird ins künstliche Koma gelegt.

Organspende: Wäre Meltzik in einer deutschen Klinig, wären die Maschinen abgeschaltet worden

„Ich bin völlig neben mir gestanden“, beschreibt sie die ersten Stunden unter Schock. Am Abend fährt sie zur Klinik, denkt auch an Patientenverfügung und Organspenderausweis. Am nächsten Tag, inzwischen ist auch eine der Töchter nach Basel gekommen, wird die Narkose zurückgenommen, doch Roland Meltzik wacht nicht mehr auf. Er kann nicht mehr alleine atmen, husten, schlucken. „Ich habe einen Sterbenden gesehen, das wusste ich da schon“, erinnert sich seine Frau. Die Ärzt:innen machen der Familie keine Hoffnung: Selbst wenn er überlebe, werde er gelähmt sein, beatmet werden müssen und geistig schwerstbehindert sein. Im „Exitusbericht“, der der FR vorliegt, ist die Rede von schweren Hirnschädigungen durch Sauerstoffmangel, Einblutungen, verletztem Rückenmark. Das alles führe „zu einer infausten Prognose“.

Wie es dazu gekommen ist, haben die Fahrradfreunde des 66-Jährigen berichtet. Roland Meltzik fuhr als Letzter in der Gruppe einen Schotterweg hinunter, irgendwann kam er nicht mehr nach. Die Freunde kehrten um und fanden ihn bewusstlos, mit geplatztem Helm. Der Klinikbericht erzählt vom dramatischen Kampf um Meltziks Leben, der sofort einsetzte: „Fünf Minuten Laienreanimation, fünf Minuten Reanimation Sanität, zehn Minuten Reanimation durch Luftrettung.“ Schuld war wahrscheinlich ein platter Reifen.

Im Unispital fällt schon am Mittwoch, einen Tag nach dem Unglück, die Entscheidung. Ausschlaggebend für die Ärzt:innen ist Roland Meltziks Aussichtslos Prognose und die Patientenverfügung, in der er maschinelle Lebenserhaltung für diesen Fall abgelehnt hat. Melanie Meltzik und ihre Kinder sind einverstanden. „Wir wussten, er hätte so nicht weiterleben wollen“, sagt die Witwe.

Wäre Roland Meltzik in eine deutsche Klinik gekommen, dann wären die lebenserhaltenden Maschinen jetzt abgestellt worden. Sein Spenderwunsch wäre unerfüllt geblieben, denn es wäre bei ihm, trotz der schweren Hirnverletzungen, nicht zum primären Hirntod gekommen.

Doch in Basel ist die Lage anders. Die Ärzt:innen klären Melanie Meltzik auf, dass eine Organspende nach Herztod erlaubt sei, und die Familie erfährt: Nur wenn auch sie Ja sagen, werden Organe entnommen. Sie stimmen zu, fühlen sich dabei auch selbst gut betreut: „Die Ärzte“, so die Witwe, „haben viel Rücksicht genommen. Sie haben sich Zeit genommen.“

Organspende: Melanie Meltzik sitzt dabei, als ihr Mann auf dem OP-Tisch liegt

Die Vorbereitung auf die Organentnahme verlängert die Zeit bis zu Roland Meltziks Tod um einige Tage. Die Maschinen laufen weiter, um seinen Körper zu durchbluten und ihn zu beatmen. Derweil untersuchen die Ärzt:innen, welche Organe er spenden kann, sie schalten Swisstransplant ein, die passende Empfängerpersonen sucht. Am Freitagabend ist es soweit, aber jetzt wird klar: Zwei OP-Teams wären nötig zur Entnahme von Lunge, Nieren, Leber und Augen, soviele stehen aber für Organentnahmen in Basel am Wochenende nicht bereit. In eine andere Klinik verlegen oder verschieben? Melanie Meltzik entscheidet sich für die Verschiebung. „Wir haben ja auch ein bisschen gehofft, dass sein Zustand sich noch bessert.“

Roland Meltziks letzte Sterbeminuten beginnen am Montagfrüh um neun Uhr. Und für seine Frau ist klar, dass sie ihren Mann bis zum Schluss begleiten wird. „Das Angebot nehmen fast alle Angehörigen von DCD-Spendern wahr“, sagt Swisstransplant-Chef Immer und ergänzt: „Dieser Sterbeprozess ist für sie meist nachvollziehbarer als bei der Spende nach Hirntod, denn man erlebt ja mit, wie das Herz aufhört zu schlagen. Das empfinden viele als sehr stimmig und tröstend.“ Der Hirntod sei schwerer begreifbar, weil der Körper des verstorbenen Spendewilligen noch durchblutet wird und sich warm anfühlt.

Melanie Meltzik sitzt also dabei, als ihr Mann auf dem OP-Tisch liegt, die Maschinen abgestellt werden und er extubiert wird. Sie sieht, berichtet sie der FR, wie nach zwei Minuten die Atmung aufhört, das Herz aber noch schwach schlägt: „Auf dem Monitor konnte ich erkennen, wie das Herz noch zuckte, ganz unregelmäßig.“ Das dauert etwas, etwa 30 Minuten vergehen, so ihre Erinnerung, „dann hat das Herz nichts mehr gemacht.“ Es folgen fünf Minuten, in denen die Ärzte nach der Richtlinie den Körper des Patienten nicht berühren dürfen. Um 9.36 Uhr macht der Intensivmediziner einen letzten Herzultraschall und stellt endgültig den Herzstillstand fest. Jetzt muss sich die Witwe von ihrem Mann verabschieden. „Ergreifend“, beschreibt sie heute diese Minuten. „Für mich war es so wichtig, dass ich bis zum Ende dabei war.“

Organspenden nach Herz-Kreislauf-Tod.
Organspenden nach Herz-Kreislauf-Tod © FR

Nachdem sie den Raum verlassen hat, kommt, so ist es vorgeschrieben, ein weiterer Facharzt hinzu. Ein Neurologe oder Neurochirurg muss es sein. Er und der Intensivmediziner führen die obligatorischen Reflextests durch und stellen einen irreversiblen Ausfall der Hirnfunktion fest, als Folge des Herzstillstands. Erst jetzt werden die Spenderorgane entnommen, wieder von anderen Ärzt:innen. Roland Meltzik spendet am Ende seine Nieren und die Augen, deren Hornhaut transplantiert werden kann. Die Lunge wird nicht entnommen, weil sie durch die Beatmung zu sehr geschädigt ist, auch die Leber kann nicht mehr transplantiert werden. Vor wenigen Wochen hat Melanie Meltzik erfahren, dass es den Personen, die die Nieren bekommen haben, gut geht, eine könne schon wieder arbeiten. Das helfe ihr bei der Trauerarbeit, sagt die Witwe.

Für Swisstransplantchef Franz Immer ist, neben dem Trost für die Hinterbliebenen, noch etwas anderes wichtig: „Wir können mit der Spende nach Herz-Kreislauf-Tod den Spendewunsch Sterbender deutlich häufiger erfüllen, als wenn nur die Spende nach Hirntod erlaubt wäre.“ Zudem erhöhen DCD-Spenden die Zahl der Transplantationen deutlich: Von den 164 Verstorbenen, die in der Schweiz 2022 Organe gespendet haben, waren 73 (fast 45 Prozent) nach Herz-Kreislaufstillstand verstorben. 10 bis 15 Prozent der Spendenden sind Franz Immer zufolge Nichtschweizer:innen – meist Menschen wie Roland Meltzik, die im grenznahen Ausland verunglücken, oder Reisende in der Schweiz.

Daneben erhält Swisstransplant nach Worten des Mediziners seit einigen Jahren wiederholt „teils verzweifelte“ Anfragen aus dem grenznahen Deutschland: Angehörige suchten nach Wegen, den Spendewunsch eines plötzlich sterbenden Menschen zu erfüllen, und bitten um eine Verlegung in eine Schweizer Klinik. Alles Fälle, in denen erst der Herztod und nicht der Hirntod eintreten wird und somit eine Spende in Deutschland verboten ist. Franz Immer macht keinen Hehl aus seiner Überzeugung: „Ich würde mich für Deutschland sehr freuen, wenn auch dort irgendwann die DCD-Spende möglich wäre.“

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