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NSU-Prozess: Viele Fragen bleiben offen – „Tiefe Enttäuschung, fast eine Traumatisierung“

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Von: Pitt von Bebenburg, Hanning Voigts

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Das Urteil für die insgesamt zehn Morde des NSU-Trios ist gesprochen. Für die Familien der Getöteten hört das Leid damit aber nicht auf.
Das Urteil für die insgesamt zehn Morde des NSU-Trios ist gesprochen. Für die Familien der Getöteten hört das Leid damit aber nicht auf. © dpa

Vor zehn Jahren begann das NSU-Verfahren in München. Die Urteile gegen Beate Zschäpe und andere sind inzwischen rechtskräftig. Dennoch ist das Kapitel nicht abgeschlossen.

Frankfurt – Für die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz war es „die arbeitsintensivste Zeit in meinem Leben“. Für ihre Mandantinnen und Mandanten, die Familie des ermordeten Enver Simsek, eine schmerzhafte Zeit, die in tiefer Enttäuschung endete. Und für die Bundesrepublik Deutschland einer der größten Strafprozesse aller Zeiten.

Vor zehn Jahren, am 6. Mai 2013, begann vor dem Oberlandesgericht (OLG) München die Hauptverhandlung gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte, die als „NSU-Prozess“ in die deutsche Geschichte einging, – benannt nach der rechtsextremen Terrororganisation, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte.

NSU-Prozess: Nach gut fünf Jahren fiel das Urteil

Zehn Morde im Zeitraum von 2000 bis 2007 wurden der Gruppierung nachgewiesen – neun davon begangen aus rassistischen Motiven gegen Gewerbetreibende mit ausländischen Wurzeln. Hinzu kamen der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter sowie drei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle. Nach 438 Verhandlungstagen in gut fünf Jahren verkündete der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am 11. Juli 2018 das Urteil. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe, die mit den Mordschützen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos das Kerntrio des NSU gebildet hatte, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, zudem ihre „besondere Schuld“ festgestellt. Vier Unterstützer – Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger – erhielten wegen Beihilfe Freiheitsstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren.

Bis dahin hatte das Gericht mehr als 600 Zeug:innen befragt und Dutzende Sachverständige gehört. Mit im Saal: Mehr als 60 Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage, zahlreiche Verteidigerinnen und Verteidiger der Angeklagten und bis zu 100 Besucher:innen und Journalist:innen auf den Tribünen.

NSU-Prozess: Jahrelang hatten die Ermittler im Dunkeln getappt

Böhnhardt und Mundlos wurden am 4. November 2011 tot in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden, der NSU flog auf. Bis dahin hatten die Sicherheitsbehörden bei der Mordserie im Dunkeln getappt, hatten Hinweise auf rechtsextreme Taten nicht ernst genug genommen und jahrelang gegen Angehörige der Mordopfer ermittelt.

Dieses Versagen der Behörden spielte in dem Mammutprozess kaum eine Rolle, sehr zur Enttäuschung der Hinterbliebenen. „Die Perspektive der Opferfamilien ist in dem Urteil kaum aufgetaucht, auch nicht in der schriftlichen Urteilsbegründung. Ich habe gedacht: Hat das Gericht denn überhaupt nicht zugehört?“, sagt Anwältin Basay-Yildiz.

Der Blumenhändler Enver Simsek aus dem hessischen Schlüchtern war das erste Todesopfer des NSU. Er wurde am 9. September 2000 an seinem Verkaufsstand in Nürnberg erschossen. Seine Frau Adile und seine Kinder Semiya und Abdulkerim Simsek verfolgten den Prozess intensiv, vertreten von Anwältin Basay-Yildiz. „Die Simseks sind stigmatisiert worden, als sie verdächtigt wurden. Das ging vielen Betroffenen so“, berichtet sie. Durch die Taten und durch die Ermittlungen seien Familien auseinandergebrochen oder hätten die Person verloren, die ihren Lebensunterhalt gesichert habe.

Die Familien der Getöteten enttäuscht es, dass ihre Perspektive im Prozess nicht wahr genommen wurde

„Es wäre bei der Strafzumessung durchaus zu berücksichtigen gewesen, was die Taten für die Angehörigen bedeutet haben“, betont Basay-Yildiz. Das habe das Gericht nicht getan. „Für mich als Anwältin war es einschneidend, erleben zu müssen, wie das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren geht“, sagt die Juristin. „Die Familie Simsek hatte Hoffnungen in dieses Verfahren gesetzt und es sehr intensiv begleitet. Am Ende stand eine tiefe Enttäuschung, fast eine Traumatisierung. Seither haben sie sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Ähnliches sehe ich bei vielen der Hinterbliebenen.“

NSU-Dokumentationszentrum in Sachsen

Die Pläne für ein Dokumentationszentrum über den Terror des rechtsextremen NSU und seine Opfer nehmen Gestalt an: Einer am Freitag vorgestellten Machbarkeitsstudie zufolge könnte es 2028 in Chemnitz und Zwickau eröffnet werden.

In den beiden sächsischen Städten waren einst die Mitglieder des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) untergetaucht. Geplant sei ein Gedenk-, Erinnerungs- und Lernort zum NSU-Komplex, sagte Robert Kusche vom Verein RAA Sachsen, der die Studie mit weiteren Akteur:innen im Auftrag des Landes erarbeitet hat.

Die Überlebenden und die Familien der Opfer sollen bei der Planung und Umsetzung des Zentrums einbezogen werden. „Wichtig ist die kontinuierliche Einbindung der Hinterbliebenen und Überlebenden des NSU-Terrors“, sagte Kusche. Ihre Geschichten bräuchten Raum und Gehör.

Die Studie empfiehlt, eine Stiftung zu gründen. Finanziert werden solle sie von Sachsen und dem Bund sowie möglicherweise weiteren Bundesländern. Die Kosten werden auf bis zu 36,4 Millionen Euro geschätzt. Hinzu kommen 42 Stellen mit Personalkosten von etwa 2,75 Millionen Euro im Jahr.

CDU, Grüne und SPD in Sachsen haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das NSU- Dokumentationszentrum zu unterstützen. dpa

Schon der Start des Prozesses war schwierig. Ursprünglich hatte er bereits am 17. April 2013 beginnen sollen. Doch die Methode, mit der das Gericht Akkreditierungen für die Presse vergab, erwies sich als problematisch. So hatte kein einziges türkisches Medium einen der 50 Journalistenplätze erhalten, obwohl acht der zehn Todesopfer familiäre Wurzeln in der Türkei hatten. Die Zeitung „Sabah“ erstritt vor dem Bundesverfassungsgericht den Beschluss, dass das OLG München eine „angemessene Zahl von Sitzplätzen an Vertreter von ausländischen Medien mit besonderem Bezug zu den Opfern der angeklagten Straftaten“ zu vergeben habe.

Welche Rolle der Ex-Verfassungsschützer Temme spielte, ist bis heute umstritten

Aus hessischer Sicht war im Prozessverlauf von besonderem Interesse, wie weit die Aufklärung der Morde an dem Schlüchterner Simsek und dem Kasseler Halit Yozgat gelang. Yozgat, der 21-jährige Betreiber eines Internetcafés, war am 6. April 2006 in seiner Heimatstadt erschossen worden. Bis heute ist ungeklärt, welche Rolle der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme spielte, der während des Mordes am Tatort war oder ihn nur Sekunden vorher verlassen hatte.

Sechs Mal musste Temme in München aussagen, das Ergebnis blieb immer gleich: Der ehemalige Verfassungsschützer behauptete steif und fest, er habe nichts von den Schüssen mitbekommen. Für den Vater Ismail Yozgat war hingegen klar: Entweder habe Temme selbst seinen Sohn erschossen oder er wisse, wer das getan habe.

NSU-Prozess: Inzwischen sind alle Urteile rechtskräftig

Ein Politikum. Yozgat forderte Aufklärung vom damaligen Ministerpräsidenten und ehemaligen Innenminister Volker Bouffier (CDU). Es gab Vorwürfe, die Nebenklage habe den Prozess politisiert. „Unsinn“, entgegnet Rechtsanwältin Basay-Yildiz. „Wenn Akten nicht geliefert werden oder wenn die Aussagegenehmigung eines Ministeriums so eng gefasst wird, dass ein früherer V-Mann des Verfassungsschutzes Antworten verweigern kann, dann spielt die Politik natürlich in den Prozess hinein.“

Mittlerweile sind alle Urteile, die Richter Götzl und seine Kolleg:innen im Münchner NSU-Prozess gesprochen haben, rechtskräftig. Im Oktober 2022 verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass es eine Beschwerde von Beate Zschäpe gegen das Urteil nicht angenommen habe.

Das Gericht hielt am Bild eines Kerntrios fest, während der U-Ausschuss von einem Netzwerk ausging

Für Caro Keller vom antifaschistischen Netzwerk „NSU Watch“, das den Münchner Prozess beobachtet hat und bis heute für Aufarbeitung kämpft, hat das Gerichtsverfahren beim Thema Aufklärung „eine sehr schwierige Rolle“ gespielt. Einerseits habe der Prozess Aufmerksamkeit geschaffen, andererseits hätten die Anklage und der Senat bis zuletzt am Bild eines isolierten Terrortrios festgehalten, obwohl die NSU-Untersuchungsausschüsse permanent Belege dafür geliefert hätten, dass das Kerntrio in ein Netzwerk eingebunden gewesen sei. Die Angehörigen hätten darauf immer wieder hingewiesen, seien aber vom Senat „wahnsinnig ausgebremst“ worden.

„Einfach verheerend“ sei es, dass es keinen Folgeprozess gegeben habe, obwohl der Generalbundesanwalt in einem sogenannten Strukturermittlungsverfahren bis heute gegen Unterstützer:innen ermittele. „Es ist noch vieles unaufgeklärt“, sagt Keller. Was die weitere Aufklärung angehe, hoffe NSU-Watch mehr auf die kritische Zivilgesellschaft als auf die Justiz. „Auf den Staat können wir uns weiterhin nicht verlassen.“

Im Dezember 2020 ging Richter Götzl in den Ruhestand. Für die Hinterbliebenen hingegen bleibt der Schmerz – auch zehn Jahre nach Beginn des NSU-Prozesses.

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