Trotz Öl und Gas: „Wir Norweger haben auch eine Energiekrise!“

Seit dem Ukraine-Krieg rücken Norwegen und Deutschland eng zusammen. Botschafter Torgeir Larsen spricht über die Energieversorgung, CO₂-Speicherung und das schlechte Gewissen, Geld mit Gas zu verdienen.
Berlin – Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte es Europe.Table am 14. April 2023.
Herr Larsen, Olaf Scholz hat beim Besuch Ihres Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre gesagt, Norwegen sei ein ganz besonders wichtiger Partner für Deutschland. War das die übliche höfliche Floskel oder mehr?
Auf jeden Fall mehr. Der Ukraine-Krieg hat auf einen Schlag ganz Europa verändert. Nordeuropa ist jetzt näher an den Kontinent gerückt, wir brauchen uns mehr denn je gegenseitig – für unsere Sicherheit und für die Energieversorgung. Auch für Norwegen ist Deutschland wichtiger denn je.
Wir reden beim Krieg in der Ukraine auch über einen Konflikt zwischen Demokratien und Autokratien. Die Sorge ist, dass Demokratien schwächer sind, weil Entscheidungsprozesse länger dauern.
Man kann durchaus der Meinung sein, es gehe in einigen Bereichen zu langsam. Aber man darf nicht vergessen, wie viel sich verändert hat in nur zwölf Monaten. Wie viel Energie aus allen Erdteilen plötzlich nach Deutschland fließt, wie viele Waffen an die Ukraine geliefert werden. Es geht wirklich um eine Zeitenwende, insbesondere angesichts der deutschen Geschichte. Mitten in Europa muss Deutschland jetzt eine neue Rolle definieren, zusammen mit allen Nachbarn, in Ost-, Süd- und Nordeuropa.
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Russlands Krieg gegen die Ukraine: Norwegen hat ebenfalls eine Energiekrise
Norwegen spielt bei der Verteidigung auch eine große Rolle. Doch der norwegische Munitionshersteller Nammo kann seine Produktion trotz voller Auftragsbücher nicht ausdehnen, weil er nicht die nötigen Strommengen erhält. Wie kann das sein?
Das liegt an unserer Energiekrise. Ja, wir Norweger haben auch eine Energiekrise! Bei uns läuft alles über Strom aus Wasser- und Windkraft. Und jetzt gibt es Engpässe. Zuletzt war der Strom in Südnorwegen teurer als in Deutschland. Die Elektrifizierung der norwegischen Gesellschaft ist schon umfassend und nimmt an Fahrt zu. Wir müssen jetzt die Infrastruktur für mehr erneuerbaren Strom aufbauen, stehen also vor der gleichen Herausforderung wie Deutschland.
Und zugleich exportiert Norwegen Strom über Unterwasserkabel nach Deutschland oder Großbritannien?
Richtig. Wir liefern nicht nur Gas, Öl und Elektrizität. Wir können auch Wasserstoff liefern, blauen und grünen. In einer Übergangszeit wird blauer Wasserstoff notwendig sein, um schnell genug den enormen Bedarf der deutschen Industrie befriedigen zu können. Es wird dauern, bis das mit grünem, also durch erneuerbare Energien, zum Beispiel norwegische Offshore-Windkraft, erzeugtem Wasserstoff möglich ist.
Haben Sie schon Kunden für die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid an der Westküste?
Das ist noch in der Erprobung. Es gibt allerdings schon Vereinbarungen mit mehreren europäischen Unternehmen. Heidelberg Materials etwa möchte schon ab 2024 jährlich 400.000 Tonnen CO₂ aus der norwegischen Zementproduktion einlagern. Robert Habeck hat diese Anlage bei seinem Norwegen-Besuch im Januar besichtigt. Ein weiteres Beispiel ist das britische Unternehmen Cory, das 1,2 Millionen Tonnen CO₂ ab 2030 aus der energetischen Müllverbrennung aus London nach Norwegen verschiffen möchte.
In Deutschland ist CCS noch verboten.
Deutschland hat nicht das London-Protokoll ratifiziert, das den grenzüberschreitenden Transport von CO₂ regelt. Aber ich glaube, dass sich Deutschland der Lagerung von CO₂ öffnen wird, um seine Industrie klimaneutral zu machen. In Norwegen lagern wir seit 1996 CO₂ sicher unter dem Meeresgrund.
Europäische Gasmärkte spielen keine entscheidende Rolle
Wie lange wird es technisch dauern, bis der blaue Wasserstoff grün wird? Die von Norwegen angepeilten 30 Gigawatt entsprechen 30 Atomkraftwerken, Norwegen plant mit 1500 Windrädern. In Deutschland bräuchten wir dazu wahrscheinlich 100 Jahre …
… wir planen mit der Fertigstellung zwischen 2035 und 2040. Ab 2030 wird unsere Gasförderung ziemlich steil absinken, da ist der Peak unserer Vorräte wahrscheinlich erreicht. Es gibt viele „Memorandums of Understanding“, aber um einen europäischen Markt für Wasserstoff zu schaffen, ist es noch ein weiter Weg. Noch gibt es weder konkrete Verträge zwischen künftigen Produzenten und Abnehmern, noch den nötigen regulativen Rahmen in Deutschland. Aber es gibt jetzt sowohl regierungs- wie unternehmensseitig Gespräche zwischen Deutschland und Norwegen. Dabei geht es um die Produktion von Wasserstoff und die entsprechende Transportinfrastruktur zwischen beiden Ländern. Binnen weniger Monate wird dazu eine Machbarkeitsstudie vorgelegt werden.
Deutschland baut so große LNG-Terminals, dass Kritiker sich sorgen, dass dafür noch mehr Gasfelder erschlossen werden und der Ausstieg aus fossilen Energieträgern verzögert würde. Sie waren mal Risikoanalyst für Gas und Öl bei Statoil, dem Vorgängerkonzern von Equinor. Was halten Sie von Deutschlands LNG-Aktivismus?
Ich finde die Planung völlig richtig. Erstens, weil man nicht weiß, wie sich die Märkte entwickeln und deshalb Puffer braucht. Zweitens, weil man LNG-Terminals auf Wasserstoff umrüsten kann. Und drittens spielen die europäischen Gasmärkte für die Weltproduktion keine entscheidende Rolle. Asien hat eine viel größere – und steigende – Gas-Nachfrage.
Norwegens Energiewirtschaft: „Frage, wie moralisch wir sind, wenn wir Gas exportieren“
Von außen klingt Norwegens Energiewirtschaft für uns ziemlich perfekt: Es exportiert Energie und entsorgt den Müll, also das CO₂. Sie profitieren also doppelt von den aktuellen Bedürfnissen. Was gibt Norwegen dafür zurück?
Wir geben der europäischen Industrie die Möglichkeit, klimaneutral zu produzieren und trotzdem konkurrenzfähig zu bleiben. Und das sehr sicher, denn wir haben viel Erfahrung bei der Speicherung von CO₂. Das ist es, was wir zurückgeben.
Gibt es so etwas wie ein schlechtes Gewissen, heute noch so viel Geld mit Gas zu verdienen?
Wir diskutieren in Norwegen über die Frage, wie moralisch wir sind, wenn wir Gas exportieren. Müsste man nicht längst ganz ausgestiegen sein? Aber es wird dauern, bis die Welt auf fossile Energien verzichten kann. Würde Norwegen die Gasförderung schließen, würde der Rohstoff deshalb einfach aus anderen Weltteilen geliefert. Die Transformation weg von der Öl- und Gasindustrie und hin zu Erneuerbaren und Klimaneutralität ist in Norwegen längst im Gange. Viele Ingenieure haben entsprechend die Branche gewechselt und arbeiten nun im Offshore-Wind. Aber jede Umstellung braucht Zeit. Die Grenze zwischen Übermoralismus und Überpragmatismus ist ein schmaler Grat. Das wissen wir.
(Annette Bruhns und Stefan Braun)