Im Konflikt mit Nordkorea will auch Seoul eigene Atomwaffen
Angesichts der Drohungen aus Nordkorea denkt Seoul über eigene Atomwaffen nach. Bei seinem US-Besuch ließ sich Präsident Yoon nun von Joe Biden ausbremsen. Beendet ist die Diskussion aber noch nicht.
München – Südkoreas Präsident weiß, wie man Amerikaner begeistern kann. Am Mittwochabend trat Yoon Suk-yeol beim Staatsdinner, das im Weißen Haus zu seinen Ehren gegeben wurde, vor das Publikum und erklärte, er werde jetzt seine Gesangskünste zum Besten geben. Gastgeber Joe Biden, der um Yoons Karaoke-Leidenschaft weiß, hatte ihn darum gebeten, wohl aus Jux. Yoon zögerte nur einen kurzen Moment, dann legte er los – und trällerte unter frenetischem Applaus der Gäste die ersten Zeilen des Folk-Klassikers „American Pie“. „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie so gut singen können“, lobte Biden nach der Kurz-Vorstellung. „Beim nächsten Staatsbankett werden Sie sich um die Unterhaltung kümmern!“
Sechs Tage hält sich Yoon in den USA auf, es ist der erste Staatsbesuch eines südkoreanischen Präsidenten seit zwölf Jahren. Die Gesangseinlage vom Mittwochabend mag für einen Moment darüber hinweggetäuscht haben – aber Yoon geht es in Washington um nicht weniger als das Überleben seines Landes. Denn Seoul sieht sich zunehmenden Drohungen aus Nordkorea ausgesetzt. Kaum eine Woche vergeht, in der das Regime von Kim Jong-un nicht irgendeine verbesserte oder gar neuartige Waffe testet.
Joe Biden: Atomangriff Nordkoreas wäre das „Ende“ von Kim Jong-un
Vor wenigen Tagen erst ließ der Diktator erstmals eine Feststoffrakete ins Japanische Meer abfeuern, kurz zuvor hatte Nordkorea eigenen Angaben zufolge eine Unterwasserdrohne erproben lassen, die in der Lage sei, „einen radioaktiven Tsunami von ungeheurem Ausmaß auszulösen“. Analysten glauben zudem, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Kim einen neuen Atombombentest anordnet, zum ersten Mal seit 2017. Adressaten von Kims Drohungen sind stets die USA und der Nachbar im Süden – „der Feind“, wie die Staatspropaganda regelmäßig poltert. Offiziell will Pjöngjang seine Atomwaffen zwar nur dann einsetzen, wenn der Süden den Norden angreifen sollte. Aber auf Zusagen vom Kim will man sich weder in Seoul noch in Washington verlassen.
US-Präsident Biden sendete deshalb am Mittwoch, noch vor dem musikalischen Staatsdinner, eine entschiedene Warnung in Richtung Pjöngjang. Ein nordkoreanischer Atomwaffenangriff gegen die USA oder ihre Verbündeten würde das „Ende“ des Kim-Regimes bedeuten, sagte Biden bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Yoon. Der Gast aus Seoul ergänzte, dass Südkorea und die USA auf einen Angriff Nordkoreas „schnell, überwältigend und entschlossen antworten und dabei die ganze Stärke des Bündnisses einschließlich US-Atomwaffen einsetzen“ würden. Zwar betonte Yoon auch die Wichtigkeit von Gesprächen mit Nordkorea. Diese könnten aber nur aus einer Position der Stärke heraus etwas bewirken.

Biden und Yoon wollen Nordkoreas Drohungen nicht länger hinnehmen
Und so blieb es nicht nur bei Drohungen in Richtung Norden: Biden und Yoon verkündeten auch, dass erstmals seit den 1980er-Jahren wieder ein nuklear bewaffnetes amerikanisches U-Boot in Südkorea andocken soll. Geplant ist zudem, militärische Übungen und Simulationen zu verstärken. Seoul soll außerdem Einblicke in strategische Planungen der USA erhalten, auch in Nuklearfragen. Ein Tabu aber bleibt: Atomwaffen wollen die USA weder in Südkorea stationieren noch an das Land liefern. Yoon versprach in Washington zudem, sein Land werde den Bau einer eigenen Bombe nicht weiter anstreben.
Dabei war es Yoon selbst, der unlängst eine atomare Hochrüstung seines Landes ins Spiel gebracht hatte. Der ehemalige Generalstaatsanwalt, der sein Amt vor knapp einem Jahr angetreten hatte, sprach sich im Januar erstmals für die nukleare Option aus. Sollte die Bedrohung aus dem Norden weiter zunehmen, müssten entweder die USA Atomwaffen in Südkorea stationieren – oder sein Land selbst welche bauen. „Angesichts unserer wissenschaftlichen und technologischen Fähigkeiten“, so Yoon, könne Südkorea „ziemlich schnell“ eigene Atomwaffen produzieren.
Nordkorea testet Atomwaffen – der Süden hätte selbst gern welche
Seoul hat allerdings den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, der genau das verbietet; ein Bruch würde wohl internationale Sanktionen nach sich ziehen. Zudem vereinbarten Seoul und Pjöngjang 1991, „keine Atomwaffen zu testen, herzustellen, zu produzieren, zu erhalten, zu besitzen, zu lagern, einzusetzen oder zu verwenden“.
Was seine solche Erklärung angesichts der bislang sechs Atomtests des abgeschotteten Nordens noch wert ist, ist jedoch fraglich. In Umfragen befürworten die Südkoreaner:innen jedenfalls regelmäßig eine nukleare Bewaffnung ihres Landes, auch unter dem Eindruck der Drohungen von Kim Jong-un. Ein überraschendes Argument der Atom-Befürworter: Eigene Atomwaffen würden nicht nur Südkorea sicherer machen, sondern auch die USA. Denn die müssten, sollte es zu einer nuklearen Eskalation in Korea kommen, keine eigenen Atomwaffen gegen Pjöngjang einsetzen – was Washington noch tiefer in den Konflikt hineinziehen würde. Bislang will die US-Regierung, die 1991 ihre letzten Nuklearwaffen aus Südkorea abgezogen hatte, dieser Argumentation allerdings nicht folgen.
China kritisiert Nordkorea-Kurs der USA
Korea-Experten wie Ramon Pacheco Pardo vom Londoner King‘s College glauben aber, dass die USA und ihre Verbündeten eine atomare Bewaffnung Südkoreas eines Tages akzeptieren könnten. „Seoul hat ein globales Netz geopolitischer und wirtschaftlicher Verbindungen geknüpft, das lang anhaltende diplomatische oder wirtschaftliche Repressalien abmildern und vielleicht sogar verhindern würde, wenn es sich für die Entwicklung von Atomwaffen entscheiden würde“, schreibt Pacheco Pardo. Zudem sei Südkorea für die USA und andere westliche Staaten ein wichtiger Partner im Konflikt mit China. „Im Stillen wären viele westliche Regierungsbeamte wahrscheinlich nicht gegen ein nukleares Südkorea.“
China, das vielleicht als einziges Land noch einen gewissen Einfluss auf den unberechenbaren Kim Jong-un besitzt, verurteilte am Donnerstag das „provokante“ Treffen zwischen Yoon und Biden. Außenamtssprecherin Mao Ning warnte in Peking davor, „bewusst Spannungen zu schüren, Konfrontationen zu provozieren und Drohungen zu betonen“. Und sie machte deutlich, dass China ein nuklear bewaffnetes Südkorea wohl kaum akzeptieren würde. Allein schon der Plan der USA, ein mit Atomwaffen bestücktes U-Boot nach Südkorea zu entsenden, untergrabe die Vereinbarungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen sowie „die strategischen Interessen anderer Länder“, so Mao. Ziel müsse die „Denuklearisierung auf der koreanischen Halbinsel“ bleiben. Wie das angesichts der Drohungen aus dem Norden gehen soll, ließ sie offen. Eine wirkliche Strategie im Umgang mit Nordkorea scheint auch Peking nicht zu haben.