Noch nicht wieder aufgeholt

Laut einer Studie hat die Pandemie und die mit ihr verbundenen Corona-Regelungen die Intelligenz von Jugendlichen beeinflusst.
Dass die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Corona-Regeln wie monatelange Schulschließungen, soziale Isolation, abgesperrten Spielplätzen und allgemeinen Lockdowns vor allem für Kinder und Jugendliche negative Folgen hatte, gilt mittlerweile als unbestritten. Studien belegen, was man auch ohne wissenschaftlichen Hintergrund ahnen kann: Viele litten – und leiden noch – unter vermehrtem Stress, unter Angst und psychischen Störungen, legten durch Bewegungsmangel Gewicht zu, gerieten durch Unterrichtsausfall in Bildungsrückstand. Noch nicht gut erforscht sind indes die Auswirkungen auf die Intelligenz, beziehungsweise das, was sich an kognitiven Leistungen als „Intelligenz“ in Tests messen lässt.
Forschende der Universität Trier und der Technischen Universität Chemnitz haben das nun für Mädchen und Jungen der Klassenstufen sieben bis neun untersucht, es ist die erste empirische Studie zu diesem Thema. Ihre im Fachmagazin „Plos One“ veröffentlichte Arbeit zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler etwa sechs Monate nach Beginn der Pandemie schlechter in einem Intelligenztest abschnitten als Vergleichsgruppen in den Jahren 2002 und 2012. Zwar bewegte sich der gemessene Zuwachs an Intelligenz in den darauffolgenden zehn Monaten dann wieder in einem Bereich, wie er vor der Pandemie üblich war, der Rückstand zu den Vorjahren konnte damit allerdings nicht aufgeholt worden.
Konflikte, Stress und Angst
Die Forscher:innen hatten für ihre Studie die Leistungen von 424 Schülerinnen und Schülern aus regulären Klassen und Hochbegabtenklassen an vier Gymnasien in Rheinland-Pfalz untersucht. Dafür nutzten sie den Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendliche, in dem es um Merkfähigkeit, Bearbeitungsgeschwindigkeit und Verarbeitungskapazität, um Einfallsreichtum und Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen, Wörtern und figuralen Darstellungen geht. Aus diesen Teilbereichen wird dann ein Wert für die „Allgemeine Intelligenz“ ermittelt.
Der erste Test fand im August/September 2020 statt, ein Zeitpunkt, an dem die Schülerinnen und Schüler mehr als zwei Monate Schulschließungen, den Wechsel zwischen Fernunterricht und Unterricht in kleinen Gruppen sowie sechs Wochen Sommerferien hinter sich hatten. Die Ergebnisse verglichen die Wissenschaftler:innen anschließend mit denen von Schüler:innen gleichen Alters, gleichen Klassentyps und gleicher Klassenstufe aus den Jahren 2002 und 2012. Die Analyse ergab, dass der Mittelwert der „Allgemeinen Intelligenz“ 2002 bei 112 IQ-Punkten lag, im Jahr 2020 betrug er dann nur noch 105 IQ-Punkte. Beim Vergleich mit den Testergebnissen aus dem Jahr 2012 fiel der Unterschied noch größer aus. Letzteres werten die Studienautor:innen als Beleg, dass der Unterschied bei den Leistungen sich nicht als die Fortsetzung eines bereits länger andauernden Abwärtstrends deuten lässt.
16 Monate nach Pandemiebeginn testeten die Forscher:innen die 424 Schüler:innen erneut. Im Vergleich mit den Testergebnissen aus dem Jahr 2020 erreichten diese einen durchschnittlichen Zuwachs von knapp acht IQ-Punkten – eine Größenordnung, wie sie unter „normalen“ Bedingungen erwartbar sei, aber „ohne Anzeichens eines Aufholens“, wie es in der Studie heißt.
Nach Ansicht der Autor:innen liefern ihre Ergebnisse Anzeichen dafür, dass eine längere Unterbrechung des regulären Schulunterrichts zu Defiziten in der intellektuellen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen führen und die Entwicklung der Intelligenz negativ beeinflussen kann.
Eva Stumpf, Direktorin des Instituts für Pädagogische Psychologie „Rosa und David Katz“ an der Universität Rostock, die nicht an der Studie beteiligt war, vermutet, dass es nicht allein der Unterrichtsausfall gewesen sei, der die intellektuelle Entwicklung während der Pandemie beeinträchtigt habe. Als weitere denkbare Faktoren nennt sie den „Anstieg familiärer Konflikte“, „Symptome von Stress, Angst und Depressivität“ sowie „eingeschränkte Möglichkeiten für soziale Interaktionen und körperliche Aktivitäten“. Es seien mehr Studien notwendig, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Klaus Zierer, Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, hält es für plausibel, dass sich auch die „Digitalisierung der Lebenswelt, die seit 2012 bis heute dramatisch zugenommen“ und in der Pandemie „nochmals Schwung bekommen hat“, auf die Intelligenzentwicklung ausgewirkt hat. Ein solcher negativer Einfluss sei etwa für die Nutzungsdauer und -art von Smartphones belegt. Zierer kritisiert zudem, dass viele „schulische Maßnahmen, die eigentlich die Folgen der Corona-Pandemie abfedern sollten“ zwar bildungspolitisch angekündigt, „aber nie wirklich umgesetzt“ worden seien, etwa die Sommerschule.
Samuel Greiff, Professor für Psychologie an der Universität Luxemburg, stellt zudem die Frage, wie sich Pandemie auf (in der Studie nicht berücksichtigte) Schülerinnen und Schüler „aus dem unteren Leistungsniveau ausgewirkt hat, also eine Gruppe, die ein gutes Bildungssystem besonders im Blick haben muss und gezielt fördern sollte“. Möglicherweise, so der Wissenschaftler, seien hier „die Effekte noch ausgeprägter und in ihrer Konsequenz schwerwiegender“.