Nigeria steht vor einem Umbruch

Ende Februar wählt das bevölkerungsreichste Land Afrikas einen neuen Staatschef
In Nigerias Banken spielen sich derzeit merkwürdige Rituale ab. Eine Kundin oder ein Kunde kommt in ein Geldinstitut, spricht mit einem Angestellten, fängt zu schreien an und zieht schließlich unter dem Gejohle der Anwesenden ein Kleidungsstück nach dem anderen aus. Der Striptease soll zeigen, dass die arme Person keinen Cent mehr hat – und ihr die Bank trotzdem kein Geld gibt. Und zwar nicht, weil das Konto im Minus ist, sondern weil das Geldinstitut kein Bargeld mehr hat. Denn Nigerias Zentralbank zieht derzeit die alten Banknoten aus dem Verkehr, vergaß jedoch – oder wollte vergessen –, dass viel zu wenig Neue gedruckt wurden.
Zentralbankchef Godwin Emefiele begründete den Notenwechsel damit, dass die Bank die Menge der im Umlauf befindlichen Scheine herausfinden müsse. Die meisten Nigerianer:innen speichern ihr Erspartes unter der Matratze, statt es zur Bank zu bringen: Deshalb weiß keiner, wie viel Geld eigentlich kursiert. Allerdings steht hinter dem Coup der Zentralbank noch ein anderes Motiv. In wenigen Tagen finden in dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas Wahlen statt: Ein Ereignis, zu dem die Zentralbank so wenig Scheine wie möglich im Umlauf haben will. Denn in Nigeria ist es üblich, dass sich Kandidaten – etwa fürs Präsidentenamt – ihre Stimmen kaufen. Und das geht nun mal nicht per Kreditkarte oder Banktransfer, dafür sind Scheine nötig. Zentralbankchef Emefiele wollte der nigerianischen Demokratie womöglich einen Dienst erweisen. Doch bei der Bevölkerung kam er damit schlecht an.
Wahlen sind in Nigeria allseits gefürchtete Begebenheiten, die ihre Schatten weit voraus und weit hinter sich her werfen. Die Temperatur in dem von zahllosen Konflikten gebeutelten Riesenreich steigt zu diesem Anlass: Den vergangenen drei Urnengängen fielen fast 1200 Menschen zum Opfer, viele davon waren Mitglieder der Wahlkommission. Allein in fünf Bundesstaaten im Südosten des Landes wurden in den vergangenen drei Jahren 134 Angriffe auf Angehörige der Wahlkommission registriert.
War es bisher üblich, Wahlurnen schon vor der Abstimmung mit Stimmzetteln vollzustopfen, ist diese Praxis nach der Einführung eines elektronischen Stimmabgabesystems obsolet geworden: Doch dadurch hat der Kauf von Stimmen nur noch an Bedeutung gewonnen. Für eine Stimme wird angeblich zwischen 20 und 50 US-Dollar bezahlt – bei mehr als 93 Millionen Wahlberechtigten kommen gewaltige Summen zusammen. Auch der Stimmenkauf wird allerdings schwieriger, seit Wähler:innen kein Handy und keine Kamera mehr in die Wahlurne nehmen dürfen. Wie können sie jetzt beweisen, dass sie ihr Kreuz an die richtige Stelle gesetzt haben?
Nigerias für den 25. Februar geplanter Urnengang gilt als einer der weltweit wichtigsten in diesem Jahr, denn dem westafrikanischen Wirtschaftsriesen und Erdölstaat wird eine Vorreiterrolle für den gesamten Kontinent zugesprochen. Sollte es zu Unruhen kommen, wird eine ganze Region erschüttert, geht es einigermaßen friedlich aus, kommt Hoffnung auf. Dieser ist der siebte Urnengang seit der nigerianischen Demokratisierung 1999: Bei den bisherigen Abstimmungen standen überwiegend greise ehemalige Militärherrscher zur Wahl. Auch der ausscheidende Präsident Muhammadu Buhari stand in den 1980er Jahren als General bereits einer Junta vor: Auch seine zurückliegenden acht Regierungsjahre als Zivilist gelten als bittere Enttäuschung.
Die Bevölkerung ist heute ärmer als 2015 (das durchschnittlich Jahreseinkommen sank von 5,400 auf weniger als 4,800 US-Dollar), der Prozentsatz der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, stieg von 37 auf über 42 Prozent. Auch die Zahl der Gewaltverbrechen – vor allem Kidnapping – schoss in die Höhe: Mit 3000 Menschen wurden im vergangenen Jahr 30 Mal mehr Menschen als im ersten vollen Regierungsjahr Buharis 2016 entführt. Im Nordosten des Landes setzt die islamistische Extremisten-Miliz „Boko Haram“ ihre blutigen Umtriebe fort. Und im Südosten wollen sich radikale der Ethnie Igbo wieder vom Vielvölkerstaat absondern, wie schon 1967 beim Biafra-Krieg. Das Ansehen Buharis sackte dermaßen in den Keller, dass sich seine Frau Aisha veranlasst sah, sich für die Mängel der Regierung ihres Mannes zu entschuldigen.
Höchst außergewöhnlich ist beim bevorstehenden Urnengang, dass die Wahlberechtigen erstmals in der Geschichte der jungen Demokratie unter mehr als zwei greisen Kandidaten wählen können. Der 70-jährige Bola Tinubu tritt für den derzeit regierenden All Progressive Congress (APC) an, der 76-jährige Atiku Abubakar für die People’s Democratic Party (PCP). Beide Parteien sind jedoch ideologisch praktisch nicht zu unterscheiden: Ihre Funktionäre wechseln von einer Organisation zur anderen, je nachdem wo sie für sich mehr Aufstiegschancen sehen. Der Ex-Gouverneur der Mega-Metropole Lagos und muslimische Spross aus dem Yoruba-Volk Tinubu galt bisher als einflussreicher Königsmacher: Nun geht er mit dem Slogan „Jetzt bin ich dran“ ins Rennen. Ihm werden die tiefsten Taschen für den Stimmenkauf nachgesagt und damit die besten Chancen eingeräumt.
Einer seiner Herausforderer, Atiku Abubakar, kandidiert zum sechsten Mal fürs höchste Amt, immer vergebens. Dem ehemaligen Zollbeamten werden unzählige Korruptionsaffären nachgesagt: Unter anderem soll ihn einst Siemens mit 1,7 Millionen US-Dollar geschmiert haben. Stimmen die Prognosen, wird der Ehemann von vier Frauen und Vater von 28 Kindern auch dieses Mal verlieren: Man darf davon ausgehen, dass der sechste auch der letzte Versuch des muslimischen Geschäftsmanns sein wird.
Die große Überraschung der Wahl heißt Peter Obi. Mit 61 Jahren ist er für nigerianische Verhältnisse verblüffend jung und hat es geschafft, sich außerhalb der beiden großen Volksparteien an der Spitze der bisher unbedeutenden Labour Party als Joker zu platzieren: Gleich drei Umfragen sehen ihn als Spitzenreiter. Der Geschäftsmann vom Volk der Igbo ist vor allem bei der jüngeren Bevölkerung populär: Dort wird er als integrer Saubermann gepriesen – auch wenn sein Name in den Panama-Papers auftauchte.
Als Gouverneur des Bundesstaats Anambra ging er offenbar dermaßen sparsam mit öffentlichen Geldern um, dass ihn Buhari als „Geizhals“ diffamierte: Auf Reisen pflegt der energische Macher seine Koffer selbst zu tragen. Kein Wunder, dass Obi auch im Ausland als Hoffnungsträger gilt: Nur ihm wird zugetraut, die wirtschaftliche Talfahrt Nigerias (20 Prozent Inflation und fast 40 Prozent des BIP als Schuldenlast) aufzuhalten oder gar umzukehren. Seine Schwäche: als Christ ist er im muslimischen Norden des Landes schlecht zu „verkaufen“. Und als Igbo – denen noch immer der Hautgout der Sezession anhaftet – ist er auch im Westen unter dem Volk Yoruba nicht sehr beliebt. Doch als größtes Hindernis auf dem Weg ins Präsidentenbüro könnte sich sein Geiz oder seine Integrität erweisen. Denn wer in Nigeria kein Geld für Stimmen ausgeben will, kann auch nicht mit dem höchsten Amt im Staat rechnen.