Hass und Gegenwehr statt Jubelstürme: Russlands kolossale Fehleinschätzung

Im Ukraine-Krieg rechnete Moskau mit einem einfachen Sieg. Doch Russland und Wladimir Putin haben das Nachbarland eindeutig unterschätzt.
Krywyj Rih – Die Aufforderung zum Verrat erhielt Oleksandr Juriwitsch Wilkul bereits am zweiten Tag des Ukraine-Kriegs während eines Telefonats mit einem alten Kollegen. Das Gespräch führte der Politiker, Nachkomme einer mächtigen und politisch gut vernetzten Familie im Südosten der Ukraine, als russische Truppen bis auf wenige Kilometer an seine Heimatstadt Krywyj Rih heranrückten.
„Er sagte: ‚Oleksandr Juriwitsch, schau auf die Karte, du siehst, dass die Situation aussichtlos ist‘“, sagte Wilkul und erinnerte sich an das Gespräch mit einem Ministerkollegen einer früheren, pro-russischen ukrainischen Regierung. Auch die Wilkuls galten Russland gegenüber als wohlgesinnt eingestellt. „Unterschreibe ein Freundschafts-, Kooperations- und Verteidigungsabkommen mit Russland und sie werden gute Beziehungen zu dir haben“, sagte der ehemalige Kollege. „Du wirst eine wichtige Person in der neuen Ukraine sein.“
Doch der Ukrainer lehnte vehement ab. „Ich habe mit Beschimpfungen geantwortet“, sagte Wilkul in einem Interview mit der New York Times. Sobald der Krieg begonnen hatte, sei jegliche Grauzone in der ukrainischen Politik für ihn verschwunden. Die Raketeneinschläge in seiner Heimatstadt hätten die Entscheidung klargemacht: Es war Zeit, zurückzuschlagen.
Ukraine-Krieg: Ausgerechnet im Osten war die Fehleinschätzung am größten
Neben militärischen Schwierigkeiten wurde im bisherigen Kriegsverlauf auf russischer Seite ein eklatantes Versagen besonders aufgezeigt: Eine fehlerhafte Analyse der Politik des Landes sowie eine völlige Fehleinschätzung der Ukrainer:innen. Nicht mit offenen Armen und wehenden Sowjet-Flaggen wurden die russischen Truppen empfangen, sondern mit Molotow-Cocktails und wüsten Beleidigungen. Irrtümer, die die russische Armee nicht wenige Leben kostete.
Moskau trat in der Erwartung eines schnellen und schmerzlosen Sieges in den Krieg ein und rechnete damit, dass Wolodymyr Selenskyj möglichst schnell abdanken würde. Eine Marionetten-Regierung in Kiew wirkt aus russischer Sicht aktuell jedoch eher wie ein ferner Traum. Selbst im Osten des Landes, wo die pro-russischen, selbst ernannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk liegen, weigerte sich ein Großteil der führenden Beamten kampflos aufzugeben und die Seiten zu wechseln. Ausgerechnet dort, wo man mit der größten Unterstützung rechnete, war die politische Kurzsichtigkeit am größten, schätzen politische Analyst:innen.
Moskau gelang es bisher kaum, lokale Politiker:innen auf seine Seite zu ziehen. Ukrainischen Behörden zufolge wurden bislang 38 Personen wegen Hochverrats angeklagt. Sie alle richteten sich gegen Beamt:innen in niedrigen Positionen, die in Einzelfällen das Land verraten hätten, heißt es.

Eine gemeinsame Vergangenheit nutzt Russland im Ukraine-Krieg nichts
„Niemand wollte zu diesem Ding hinter der Mauer gehören“, sagte Kostyantyn Usow, ehemaliger Parlamentsabgeordneter aus Krywyj Rij, gegenüber der New York Times. „Das Ding“ steht für das isolierte, autoritäre System Russlands. Auch andere prominente, einst russisch orientierte Politiker wie Ihor Terekhov, Bürgermeister von Charkiw, und Odessa-Bürgermeister Hennady Trukhanov blieben loyal und wurden zu erbitterten Verteidigern ihrer Städte.
Dabei ist die Region in vielerlei Hinsicht mit der sowjetischen Geschichte verwoben. Der Südosten der Ukraine wurde durch die Eisen- und Kohleindustrie geprägt. Erdschätze, die viele Nationalitäten aus dem Zarenreich und der Sowjetunion anlockten. Im Laufe der Zeit wurde Russisch zur dominanten Verkehrssprache in der Gegend, privat blieben die Städte und Dörfer jedoch überwiegend ukrainischsprachig. In der jüngeren Vergangenheit wurden in der Region jahrelang aber russischsprachige Politiker gewählt – wie Oleksandr Wilkul.

Oleksandr Wilkul: Einst pro-russisch, doch dann kam der Ukraine-Krieg
Wilkul war unter ukrainischen Nationalist:innen verhasst, weil er unter anderem kulturelle Veranstaltungen im Sowjet-Stil förderte, berichtet die New York Times. So veranstaltete er in Krywyj Rih eine Karaoke-Party, bei der „Katjuscha“ gesungen wurde. Das Lied avancierte während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Hymne der sowjetischen Armee und wird noch heute mit dem Sieg über Nazi-Deutschland in Verbindung gebracht.
Unter dem früheren, pro-russischen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, stieg Oleksandr Wilkul bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten auf, ehe Janukowitsch 2014 von Demonstrant:innen abgesetzt wurde. Ein Großteil des Kabinetts floh nach Russland, Wilkul hingegen blieb zurück und ergriff die Macht in seiner Heimatstadt Krywyj Rih, in der sein alternder Vater als Bürgermeister fungierte.
Doch der Kreml vergaß Wilkul nicht. Im Jahr 2018 erzählte er in einem Interview, man hätte ihm über einen Mittelsmann mitgeteilt, dass „die Zeit des Chaos vorbei ist“. Ab sofort habe er Befehle aus Moskau und von Wladimir Putin zu befolgen, wenn er im Südosten weiterhin regieren wolle. Doch selbst dann hätte man sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu umwerben, sondern nur Forderungen gestellt.
Ukraine-Krieg: Wilkul bezeichnet Russ:innen als „klassische Größenwahnsinnige“
Dennoch wurde Wilkul im Ukraine-Konflikt vom Kreml als vielversprechender Konvertit angesehen. Bei anderen Politiker:innen in der Ostukraine sei man genauso vorgegangen, sagte er der New York Times. „Sie dachten einfach, dass wir a priori auf ihrer Seite stehen würden.“ Heute behauptet der Politiker, seine Familie „kämpft seit hundert Jahren gegen die Russen in diesem Land“ – wie etwa sein Urgroßvater, der im Bürgerkrieg gegen Weißrussland gedient habe.
Nach früherer Kritik der nationalen Opposition nimmt Wilkul heute kein mehr Blatt mehr vor den Mund, wenn es um Moskau geht. Die Russ:innen seien „klassische Größenwahnsinnige“. „Sie verwechselten die gemeinsame Sprache und Werte wie die Einstellung zum Zweiten Weltkrieg und zur Orthodoxie mit einem Zeichen, dass jemand sie liebt“, sagte er. In den ersten Kriegstagen der Invasion wies er die Bergbauunternehmen der Region an, schweres Gerät auf der Landebahn des Flughafens der Stadt zu parken, um einen Luftangriff zu vereiteln. Auch Zufahrtsstraßen wurden dem Times-Bericht zufolge zugestellt, um Panzerkolonnen zu verlangsamen oder gänzlich aufzuhalten. Dafür wurden die Reifen der schweren, geparkten Fahrzeuge zerstochen und die Motoren beschädigt.
Inzwischen reichen dem ehemals pro-russischem Politiker ukrainische Nationalist:innen, wie etwa Dmytro Jarosch, Anführer des paramilitärischen Rechten Sektors, sowie die Journalistin und Aktivistin Tetjana Tschernowol die Hand. Selbst Präsident Selenskyj, der ebenfalls aus Krywyj Rih stammt und einst politischer Gegner war, ernannte den Politiker am dritten Tag des Ukraine-Kriegs zum Militärgouverneur der Stadt. „Wenn wir die Russen bekämpfen“, sagte Wilkul, „waren wir dann im Grunde jemals wirklich pro-russisch?“. (nak)