Nach mutmaßlichem Drohnen-Angriff auf Kreml: Experten gehen von Inszenierung Russlands aus
Russland diskutiert über angemessene Reaktionen auf den Drohnen-Angriff. Doch zahlreiche Experten werfen dem Kreml eine bewusste Inszenierung vor.
Moskau - Die Mitteilung des Kremls war eindeutig. Die ukrainischen Streitkräfte hätten in der Nacht zum Mittwoch zwei Drohnen auf den Weg in die russische Hauptstadt geschickt, um Präsident Wladimir Putin zu töten. Das russische Präsidialamt sprach von einem „Terroranschlag“ auf den russischen Autokraten. Videos von dem vermeintlichen Angriff wurden rege auf Twitter und anderen Netzwerken geteilt. Hat der Ukraine-Krieg nun also auch Putins Machtzentrale erreicht? Doch es gibt starke Zweifel an der russischen Darstellung. Hat der Kreml den Angriff für die eigene Bevölkerung selbst inszeniert?
Ukraine-Krieg: Selenskyj bestreitet Verantwortung für Drohnen-Angriff auf den Kreml
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dementiert noch am Mittwoch, dass Kiew für den Drohnenangriff verantwortlich sei. Die Ukraine sei zu sehr damit beschäftigt „unsere Dörfer und Städte zu verteidigen“, um eine solche Aktion durchzuführen, erklärte der 44-Jährige auf einer Pressekonferenz. Selenskyj fügte hinzu: „Selbst dafür haben wir nicht genug Waffen.“

Die Militärexperten des US-Thinktanks „Institute for the Study of War“ gehen ebenfalls davon aus, dass die Ukraine nicht für den Angriff verantwortlich sei. „Russland hat diesen Angriff wahrscheinlich inszeniert, um den Krieg einem russischen Publikum im Inland nahezubringen und Bedingungen für eine breitere gesellschaftliche Mobilisierung zu schaffen“, schrieb das ISW in seinem täglichen Lagebericht am Donnerstag.
Angriff auf den Kreml: ISW-Experten halten Inszenierung durch Russland für sehr wahrscheinlich
Mehrerer Indikatoren würden dabei für eine Inszenierung durch den Kreml sprechen. So hätte die Militärverwaltung in Moskau die Luftverteidigung der Stadt seit Kriegsbeginn erheblich ausgebaut. Dass zwei Drohnen diese Luftverteidigung überwinden und bis zum Kreml vorstoßen konnten, halten die ISW-Experten für unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass die Drohnen genau über dem Herzen des Kremls abgeschossen wurden oder detoniert sind und der Vorgang auf gutem Bildmaterial von einer Kamera eingefangen wurde. Perfekte Voraussetzungen für eine mediale Inszenierung.
Weiter hieß es in dem ISW-Bericht: „Die sofortige, kohärente und koordinierte Reaktion des Kremls auf den Vorfall legt nahe, dass der Angriff intern so vorbereitet wurde.“ Der Kreml sprach kurz nach dem Vorfall von einem Terroranschlag durch die Ukraine. Russische Propagandisten und Politiker schlossen sich diesem Narrativ ebenfalls schnell an.
Mark N. Katz von der George Mason University Schar School of Policy wies gegenüber dem US-Portal Newsweek auch darauf hin, dass die Erfolgsaussichten eines solchen Angriffs enorm gering gewesen seien. „Selbst wenn sie (die Drohnen, Anm. d. Red.) bewaffnet waren, war die Wahrscheinlichkeit, Putins Aufenthaltsort innerhalb des Kreml-Komplexes zu lokalisieren, ziemlich gering.“ Russische Medien teilten am Mittwoch mit, dass Putin sich zum Zeitpunkt des Angriffs gar nicht im Kreml aufgehalten hatte. Nach russischen Angaben wurde bei dem Drohnenangriff niemand verletzt.
Erneute Eskalation im Ukraine-Krieg? Russische Offizielle fordern Konsequenzen für „Terroranschlag“
Doch auch wenn die ukrainischen Streitkräfte tatsächlich hinter dem verzweifelten Angriffsversuch auf Putin stecken, kann der Kreml die Umstände nun zu seinem Vorteil nutzen. Das Präsidialamt erklärte nach dem Angriff, man behalte sich entsprechende Reaktionen vor. Am Mittwoch forderten bereits diverse Militärblogger und öffentliche Personen eine entschiedene Reaktion des Kremls. Der frühere Separatistenführer und Kriegsverbrecher Igor Girkin sprach sich für eine endgültige Eskalation des Kriegs gegen die Ukraine aus. Russland hätte es Kiew erlaubt, mehrere „Rote Linien“ zu überschreiten, ohne angemessen darauf zu reagieren.
Unklar ist aktuell noch, wie eine solche Eskalation aussehen könnte. Die Experten des ISW gehen davon aus, dass der Vorfall vor allem dazu genutzt werden könnte, um „verstärkte Mobilisierungsmaßnahmen“ innerhalb der russischen Gesellschaft zu rechtfertigen.
Ukrain-Krieg: Gerät Selenskyj ins Fadenkreuz? Medwedew fordert „leibliche Eliminierung“
Für Mark N. Katz wäre eine denkbare Reaktion auch ein verstärkter Fokus auf Selenskyj. Die russischen Streitkräfte könnten ihrerseits einen Angriff auf den ukrainischen Präsidenten vorbereiten. „Ein verzweifelter Putin könnte hoffen, dass das Ausschalten von Selenskyj Russlands beste Hoffnung sein könnte, um politisches Chaos in der Ukraine zu verursachen und deren Kriegsanstrengungen zu schwächen“, sagte Katz gegenüber Newsweek.
Entsprechende Forderungen wurden bereits am Mittwoch laut. Der Vorsitzende des russischen Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin, rief als Reaktion dazu auf, die Regierung in Kiew zu „vernichten“. Mit der Regierung Selenskyjs könne es „keine Verhandlungen“ geben. Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew forderte die „leibliche Eliminierung“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „und seiner Clique“. In seinen Augen werde Selenskyj „zur Unterzeichnung der Kapitulation der Ukraine nicht gebraucht“, schrieb Medwedew.
Reaktion auf vermeintlichen Drohnen-Angriff: Erneuter Wendepunkt im Ukraine-Krieg?
Eine weitere mögliche Reaktion wäre eine erneute Verstärkung der Angriffe auf ukrainische Metropolen mit Bomben und Raketen. Allerdings ist dabei unklar, ob Russland genügend militärische Kapazitäten besitzt, um die Angriffe erneut auszuweiten. In den vergangenen Monaten wurde immer wieder von einer Munitionsknappheit in Russland berichtet. Abhängig davon, welche Reaktionen der Kreml ergreifen wird, könnte sich der Vorfall am Mittwoch als einschneidendes Ereignis im Ukraine-Krieg erweisen. Vielleicht sogar als möglicher Wendepunkt. (fd mit afp)