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Nawalny droht komplette Isolation

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Von: Stefan Scholl

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Alexei Nawalny bei einer Demo 2018 in Moskau. Vasily MAXIMOV/AFP
Alexei Nawalny bei einer Demo 2018 in Moskau. © Vasily Maximov/afp

Nach mehr als 100 Tagen im Karzer kommt der russische Oppositionelle für ein halbes Jahr in sogenannte Kammerhaft. Eigentlich müsste er dann bald entlassen werden. Eigentlich.

Am meisten quäle im Gefängnis, dass man seine Verwandten nicht sehen, nicht mit den geliebten Menschen sprechen könne, schreibt Nawalny auf Facebook. „Acht Monate hatte ich keinen Besuch. Und gestern erklärte man mir, ich komme in Kammerhaft, für ein halbes Jahr, die Maximalfrist. Dort sind Besuche verboten.“ Selbst Triebtäter und Serienkiller, die lebenslang sitzen, hätten Anspruch auf Besuch.

Vor zwei Jahren wurde der russische Oppositionsführer Alexei Nawalny zu zwei Jahren und acht Monaten Straflager verurteilt, wegen angeblich nicht eingehaltener Bewährungsauflagen. Zuvor hatte der Putin-Kritiker nur knapp eine Nowitschok-Vergiftung überlebt. Er kehrte nach seiner Genesung in Deutschland nach Moskau zurück, trotz drohender Haft. Nawalnys Schicksal ist zum Drama geworden, ohne absehbares Ende, eng verknüpft mit Wladimir Putins aggressiver Geopolitik.

Nawalny, 46, lebt seit Juni 2022 im Zuchthaus IK-6 nahe der östlich von Moskau gelegenen Stadt Wladimir. Laut Menschenrechtsgruppen grenzen die Schikanen gegen ihn an Folter. Er landet immer wieder im Karzer, nach eigenen Aussagen saß er dort schon über 100 Tage. Weil er seine Jacke nicht völlig zugeknöpft hatte, sich zur Unzeit wusch oder einen Vollzugsbeamten mit Dienstgrad und Nachnamen statt mit Vor- und Vatersnamen anredete. Er lese gerade Aufzeichnungen des Sowjetdissidenten Anatoli Martschenko, der 1986 nach dreimonatigem Hungerstreik in Haft starb, schreibt Nawalny. Der sei unter anderem im Karzer gelandet, weil er eine Zigarettenkippe aufgehoben hatte. „Das System ist ein und dasselbe geblieben. Nur dass es jetzt fließendes Wasser in den Zellen gibt und Hunger als offizielle Folter abgeschafft wurde.“

Am Wochenende tauchte ein Foto des völlig abgemagerten Nawalny auf. Nawalnys Anwalt Wadim Kobsew twitterte, sein Klient habe sieben Kilo verloren und schneidende Magenschmerzen, nachdem man erst einen grippekranken Häftling in seine Zelle verlegt und Nawalny dann mit riesigen Dosen medizinisch nutzloser Antibiotika kuriert habe.

Nawalny aber schreibt, zwei Beobachter einer regimetreuen Haftprüfungskommission hätten ihn im Karzer besucht, alles für gut erklärt, nur die schlechte Beleuchtung bemängelt. „Tolle Hilfe“, räsoniert Nawalny. Jetzt hätte man ihm eine riesige Lampe mit drei Hochleistungsbirnen in die Zelle gehängt, die heller strahle als jede OP-Leuchte. „Ihr habt das veranlasst, ich aber werde in drei Monaten blind sein.“

In der sogenannten Kammerhaft erwarten Nawalny kaum bessere Bedingungen. „Das Innere solcher Zellen deprimiert“ heißt es selbst auf der Website der russischen Strafvollzugsbehörde FSIN. „Im Sommer ist es sehr heiß, im Winter kalt und immer stickig. Die meisten ,Bewohner‘ rauchen, die Belüftung funktioniert nicht richtig gut. Gelinde gesagt.“ Laut FSIN ist ein Kurzbesuch in sechs Monaten erlaubt, aber Nawalny mag er wieder gestrichen werden. Nach Aussagen früherer Häftlinge könnte man ihn hier auch ein halbes Jahr völlig isolieren. Kammerhaft solle Gefangene mit Rechtsansprüchen brechen.

„Nawalnys Verlegung zeugt von der offenen Strategie, seine Gesundheit mit allen Mitteln zu zerstören“, twittert Anwalt Kobsew. „Was in russischer Kammerhaft Standard ist, gilt nach europäischen Normen als Folter“, sagt Sergei Dawidis, bei der Menschenrechtsorganisation Memorial zuständig für politische Gefangene. „Im Gegensatz zu weniger prominenten Häftlingen ist Nawalny vor direkter Gewaltanwendung geschützt, aber dafür wird er viel massiver mit quasi-legalen Methoden unter Druck gesetzt.“ Damit wolle man ihn zum Schweigen bringen, Nawalny aber attackiere Putin persönlich weiter, das erbose die Lagerleitung nur noch mehr, weil sie als unfähig dastehe.

Ein Ende des ungleichen Kampfes ist nicht abzusehen. Vergangenen März wurde Nawalny als mutmaßlicher Betrüger zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt, dazu läuft ein Extremismusverfahren gegen ihn.

Im Januar forderten 290 russische Ärzte und 13 Anwälte in offenen Briefen an Putin, die Misshandlungen Nawalnys, die inzwischen dessen Leben bedrohten, zu beenden und ihn medizinisch angemessen zu versorgen. Danach erhielt Nawalny Besuch von einem Gefängnisarzt, außerdem heißes Wasser, Antibiotika und die Lampe mit den überhellen Birnen. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Ukraine-Konflikts nehmen die Staatsorgane auch im Fall Nawalny kaum noch Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit. Aber schon 2021 wollte Putin gegenüber einem NBC-Interviewer nicht garantieren, dass Nawalny das Gefängnis lebend verlässt: „Solche Entscheidungen werden in unserem Land nicht vom Präsidenten gefällt.“

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