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Proteste in Kolumbien: Nachts eskaliert die Gewalt

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Von: Stefan Simon

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In Kolumbien demonstrieren die Menschen gegen die Regierung und für Reformen. Die Frankfurterin Rebecca Sprößer wird zum Sprachrohr der Protestbewegung.

Cali – Es sind Szenen wie in einem Bürgerkrieg. Vor einem Supermarkt sind auf einer breiten Straße Barrikaden aus Müllbergen zu sehen. Junge Menschen blockieren die Straße. Halstücher, Masken und Schutzbrillen bedecken ihre Gesichter. Einige tragen Basecaps, andere haben die Kapuzen ihrer Sweatshirts über den Kopf gezogen. Vor sich halten sie zur Hälfte abgesägte Ölfässer.

Mittendrin steht Rebecca Sprößer vor einer brennenden Barrikade. Auch sie trägt einen Plastikhelm, darauf eine Schutzbrille und ein Halstuch. Die 34-Jährige hat der Frankfurter Rundschau das halbminütige Video aus Cali, in dem die Szenen zu sehen sind, zugespielt. Die drittgrößte Stadt Kolumbiens ist das Epizentrum der Proteste gegen die Regierung, die sich durch das ganze Land ziehen.

Frankfurterin Rebecca Sprößer: Lage in Kolumbien „wirklich gefährlich“

Sprößer steht in der „Primera Línea“, der ersten Reihe, der Spitze der Widerstandsgruppe „Puerto Resistencia“. Jeden Moment kann die Polizei anrücken. Kurz bevor das Video endet, sagt sie: „Es ist wirklich gefährlich. Es geht hier jede Nacht um Leben und Tod.“

Seit Ende April gibt es in Kolumbien Proteste gegen die Regierung. Die Anzahl der Menschen, die dabei ums Leben kamen, liegt nach Angaben von Behörden und der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bei 60 bis 70. Doch die Dunkelziffer könnte weitaus höher liegen.

Proteste in Kolumbien: Menschen lehnen sich gegen die Regierung auf

Anfangs richtete sich der Protest gegen eine geplante Steuerreform; die wurde inzwischen zurückgezogen. Mittlerweile demonstrieren die Menschen allgemein gegen die Regierung. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen, eine Reform des Rentensystems, besseren Schutz von Menschrechtsaktivist:innen, ein funktionierendes Gesundheitssystem und die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens mit der linksgerichteten Ex-Guerilla-Bewegung Farc.

Die Proteste begannen mit einem nationalen Streik. Das Streikkomitee, das sich damals gründete, führt Verhandlungen mit der Regierung – bislang erfolglos. Die Regierung unter Präsident Iván Duque bezeichnet die Demonstrierenden gar als Terroristen oder Guerillas. Bis heute reagiert die Polizei mit harter Repression und Gewalt.

Frankfurterin Sprößer in Kolumbien: Seit Tag eins dabei

Die Aktivisten der „Puerto Resistencia“ sind jung, teilweise handelt es sich noch um Kinder. Sprößer erzählt, sie seien zwischen 15 und 25 Jahren alt, kämen aus den Armenvierteln. Viele von ihnen seien Waisen, hätten sehr wenig Geld, kaum etwas zu essen.

Die Polizei rückt jede Nacht zu einem der rund 15 Blockadepunkte in der Stadt an. Sie schieße auf die Demonstrierenden mit Tränengasgranaten und scharfer Munition, berichtet Sprößer. Die einzigen „Waffen“, um sich zu wehren, seien Pflastersteine und selbstgebaute Steinschleudern.

Sprößer, die aus Frankfurt kommt, ist seit Tag eins der Proteste in Cali. „Ich hatte gerade mein Studium beendet und mir überlegt, was ich denn so machen will. Da ich gerne Salsa tanze und Cali eine Hochburg des Salsa ist, flog ich hierher“, sagt sie.

Zur Not tun es auch alte Fässer: Demonstrierende in Bogotá kauern hinter einer behelfsmäßigen Barrikade, um sich vor der Polizei zu schützen.
Zur Not tun es auch alte Fässer: Demonstrierende in Bogotá Kolumbien kauern hinter einer behelfsmäßigen Barrikade, um sich vor der Polizei zu schützen. © AFP

Demonstrationen in Kolumbien: „Puerto Resistencia“ als zweite Familie für Frankfurterin

Der Trip war eigentlich als Urlaub geplant. Aus zwei Wochen sind mittlerweile drei Monate geworden. Sprößer arbeitete in einer Tanzschule, als die Proteste begannen. Weil sie schon in der Vergangenheit weltweit für Hilfsorganisationen im Einsatz war, beschloss sie, dasselbe auch in Cali zu tun. „Wir sammelten Geld, um Lebensmittel und Medikamente zu kaufen“, erzählt sie. Damit fuhr sie zum Hauptblockadepunkt des Widerstands und lernte so die jungen Männer der „Puerto Resistencia“ kennen. „Ich kam dann jeden Tag und blieb jede Nacht. Eigentlich gehe ich nur noch nach Hause, um zu duschen. Die ‚Puerto Resistencia‘ ist ein bisschen mein Zuhause geworden.“ Und die Jungs der „Primera Línea“ seien ihre Familie.

Sprößer ist für sie so etwas wie eine Pressesprecherin geworden. Sie filmt mit ihrem Smartphone jeden Tag und jede Nacht, was sich auf den Straßen Calis abspielt, und stellt die Videos auf ihre Facebook-Seite. Tagsüber versammeln sich Familien, Alt und Jung bei den Blockadepunkten wie etwa Autobahnen oder von den Demonstrierenden eingenommene Polizeiwachen. In Sprößers Videos ist zu sehen, wie die Menschen Salsa tanzen, sich kostenlos tätowieren lassen. Es werden T-Shirts gedruckt und Graffiti gesprüht; an einer Hauswand ist etwa ein Graffito zur Erinnerung an den von einem Polizisten erschossenen Nicolas Guerrero zu sehen (siehe nebenstehendes Interview). Die besetzten Polizeiwachen machten die Demonstrierenden kurzerhand zu Bibliotheken. Es sind friedliche Szenen, die zu sehen sind, sie erinnern an Straßenfeste. „Die Menschen hier demonstrieren auch für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe. Für eine bessere Bildung, bessere medizinische Versorgung, für kulturelle Angebote“, erklärt Sprößer.

Gewalt in Kolumbien: „Mittlerweile normal wenn jemand stirbt“

Doch je näher der Abend rückt, desto leerer werden die Straßen. Dann bleibt nur noch der harte Kern wie die „Primera Línea“. Sprößer spricht von rund 80 Leuten. Jede Nacht bangt sie um das Leben ihrer „Jungs“. Jede Nacht könnte es einen von ihnen treffen. Sprößer hat bereits einige Bekannte verloren. Zwei Tage vor dem Skype-Gespräch mit der Frankfurter Rundschau stirbt ein Freund im Kugelhagel der Polizei. „Wir feierten und hörten Musik. Dann hörten wir Schüsse“, erzählt sie. Eine Nacht zuvor starb ein weiterer Freund. „Er wurde von einem Lkw überfahren.“ Während sie das erzählt, verzieht sie weder ihr Gesicht noch wird ihre Stimme brüchig. Für sie ist das der Alltag. „Man gewöhnt sich sehr schnell an die Situation. Es ist mittlerweile normal, wenn wieder jemand stirbt, und das fast jede Nacht.“

Nichtregierungsorganisationen sprechen außerdem von Hunderten Menschen, die an den Protesten teilgenommen haben und danach einfach verschwunden sind. Auch Fälle von sexualisierter Gewalt haben sich demnach gehäuft. Eine Minderjährige soll von Polizisten vergewaltigt worden sein und am nächsten Tag Suizid begangen haben. Inzwischen ist auch die Rede von parapolizeilichen bewaffneten Gruppen, die sich in den Konflikt einmischen, von einem „Hackhaus“ in Cali, in dem Menschen ermordet werden, und von Erschießungen und Massengräbern.

Kolumbien im Ausnahmezustand: Könnte bis ins kommende Jahr andauern

Das „Hackhaus“ in Cali hat Sprößer selbst gesehen. Sie war dort mit einer Menschenrechtsorganisation. „Es handelt sich um einen früheren Großraum-Supermarkt, den Éxito, den die Polizei eingenommen hat.“ Dort sollen laut Sprößer etwa 25 Personen verschwunden sein. Erst 24 Stunden, nachdem Vertreter:innen der NGO dort ankamen, ließ die Polizei sie herein. „Sie berichteten von sehr viel Blut. Und so, wie das Blut verteilt war, muss es wohl zu sehr viel Gewalt gekommen sein“, sagt Sprößer. Die Aussagen kann die Frankfurter Rundschau nicht verifizieren, allerdings prangert dies nach einem Bericht des lateinamerikanischen Nachrichtenportals „Amerika 21“ auch die Hilfsorganisation Ökumenische Kommission Gerechtigkeit und Frieden an.

Rebecca Sprößer (erste Reihe Mitte) in Cali.
Rebecca Sprößer (erste Reihe Mitte) in Kolumbiens drittgrößter Stadt Cali. © Rebecca Sprößer

Auch für Sprößer wird die Lage vor Ort immer gefährlicher. Unbekannte haben ein Instagram-Profil von ihr erstellt, Fotos hochgeladen und zum Mord an ihr aufgerufen. „Meine Jungs sagen zu mir, dass ich nicht mehr nach Hause gehen soll, weil es außerhalb der ‚Puerto Resistencia‘ zu gefährlich ist“, sagt sie. Dennoch habe sie keine Angst. „Ich weiß auch nicht warum. Ich habe mehr Angst um meine Jungs.“

Kolumbien am Abgrund: „Die Menschen nicht im Stich lassen“

Kurzzeitig keimte bei den Demonstrierenden sogar etwas Hoffnung auf. Die „Vereinigung der Widerstandsgruppen von Cali – Die Erste Linie sind wir alle“ hatte in Verhandlungen die Festlegung von Garantien für die Proteste durch die Stadtverwaltung erreicht. Nach Gesprächen hat Bürgermeister Jorge Iván Ospina ein Dekret erlassen, mit dem er sich unter anderem zur Zurückhaltung der Stadtpolizei bei friedlichen Protesten verpflichtet. So berichten es „Amerika 21“ und Sprößer, die bei den Gesprächen dabei war. Doch nun hat Präsident Duque nach Angaben von Sprößer die Bürgermeister entmachtet. Die Verhandlungserfolge wurden somit zunichte gemacht. „Präsident Duque will alle Teilnehmer aus der Widerstandsbewegung gesetzlich verfolgen. Das ist übel“, sagt sie.

Die Proteste könnten noch bis zur Wahl im kommenden Jahr anhalten. Zu groß sei das Misstrauen in die Regierung, sagt Sprößer. Sie glaubt, nur durch internationalen Druck könne es zu einem Ende der Gewalt kommen. Doch egal, wie lange die Proteste noch anhalten werden, die 34-Jährige will das Land nicht verlassen. „Ich habe das auch meinen Eltern gesagt. Ich kann die Leute hier nicht im Stich lassen. Hier passiert gerade etwas Historisches.“

Aufstände in Kolumbien: „etwas historisches“

Drei Tage nach dem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau schickt Sprößer ein 90-minütiges-Video von der Nacht vom 9. auf den 10. Juni. Es zeigt junge Menschen mit Steinschleudern und Schutzschildern. Ihre T-Shirts und Halstücher haben sie über ihre Köpfe gezogen. Schüsse sind zu hören. Dann rennen sie, Sprößers Kamera wackelt. Sie schnauft. Es gibt einen lauten Knall, aufsteigende Rauchwolken sind zu sehen. Die traurige Bilanz der Nacht: rund 50 Verletzte und fünf Tote. (Stefan Simon)

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