Die Migranten fehlen

In der neuen Bundesregierung ist eine große Gruppe der Bevölkerung nicht vertreten. Die Migranten.
Bei der Verteilung der Regierungsposten hatte die SPD viele Ansprüche formuliert: Die sechs Ämter in der großen Koalition sollten zwischen Frauen und Männern gleich aufgeteilt werden, eine ostdeutsche Politikerin sollte dabei sein, ebenso Vertreter der Landesverbände aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Auch die Parteilinke sollte wichtige Posten besetzen. Sämtliche Ziele wurden erreicht.
Doch eine große Bevölkerungsgruppe übersahen die Sozialdemokraten bei ihren Plänen genauso wie ihre Koalitionspartner CDU und CSU: rund 18,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Dass sie beinahe ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, spiegelt das Kabinett nicht wider.
Einmal abgesehen von der neuen Justizministerin Katarina Barley (SPD), Tochter eines Briten und einer Deutschen, stammt kein deutsches Regierungsmitglied aus einer Familie mit Einwanderungsgeschichte. Und auch auf der Liste der 35 künftigen Staatsminister und Parlamentarischen Staatssekretäre ist nicht ein Politiker mit Migrationsgeschichte vertreten.
Den Posten der bisherigen Staatsministerin für Integration, Aydan Özoguz (SPD), deren Eltern aus der Türkei stammen, übernimmt die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Annette Widmann-Mauz (CDU).
„Es ist enttäuschend, kommt aber nicht überraschend“, kommentierte Gonca Türkeli-Dehnert, Geschäftsführerin der Deutschlandstiftung Integration, die Postenvergabe in der neuen Bundesregierung.
„Ein Demokratiedefizit“
Zwar sei der Anteil der Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund in dieser Legislaturperiode leicht gestiegen, aber mit knapp acht Prozent noch weit entfernt vom Anteil an der Bevölkerung. „Das ist ein Demokratiedefizit“, sagte Türkeli-Dehnert. Wer nicht mitmischen und mitentscheiden könne, fühle sich nicht zugehörig.
Unter den 709 Bundestagsabgeordneten befinden sich dem Mediendienst Integration zufolge 58 Parlamentarier aus Einwandererfamilien. „Jetzt müssen die Parteien schnell nachsteuern, gezielte Nachwuchsförderung betreiben und mehr Politiker mit Migrationshintergrund in aussichtsreichen Wahlkreisen als Kandidaten berücksichtigen“, so Türkeli-Dehnert.
Auch die Opposition kritisierte die Personalwahl der Koalitionsparteien. Filiz Polat, Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik in der Bundestagsfraktion der Grünen, sagte, SPD und Union unterwanderten damit das Bekenntnis zum Einwanderungsland Deutschland. Weder eine Ministerin noch einen Parlamentarischen Staatssekretär mit Migrationshintergrund zu benennen, sei „ein sehr bedauernswerter Rückschritt und wird unserer vielfältigen Gesellschaft nicht gerecht“.
Bernd Riexinger, Linke-Parteivorsitzender, sagte, zwischen der Lebenswelt der Menschen im Land und der großen Koalition klaffe eine Lücke. Die verfehlte Integrationspolitik spiegele sich in der Besetzung des Kabinetts wider. „Angesichts einer Gesellschaft, in der jeder Vierte einen Migrationshintergrund hat, die Themen Flucht und Zuwanderung ganz oben auf der Tagesordnung stehen und eine rechtsextreme Partei im Bundestag den strukturellen Rassismus im Land befeuert, ist diese Diskrepanz unangemessen“, sagte Riexinger.
Elizabeth Beloe, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrantenorganisationen, sagte, es sei „mehr als bedauerlich, dass nicht nur im Bundestag Menschen mit Migrationsgeschichte stark unterrepräsentiert sind“. Damit würden die Perspektiven von vielen in Deutschland lebenden Menschen nicht berücksichtigt. „In den nächsten zehn Jahren haben in Deutschland bereits 40 Prozent der 20- bis 40-Jährigen eine Migrationsgeschichte – und das spiegelt sich nicht im neuen Kabinett wider“, sagte Beloe.