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Hohe Verluste und neue Soldaten für die Gegenoffensive: Wie rekrutiert eigentlich die Ukraine?

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Von: Felix Durach

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Ukrainische Rekruten bei der Ausbildung durch Angehörige des britischen Militärs in Südengland.
Ukrainische Rekruten bei der Ausbildung durch Angehörige des britischen Militärs in Südengland. © BEN STANSALL/afp

Kiew rekrutiert für den Krieg gegen Russland weiterhin regelmäßig Soldaten. Doch nicht jeder Ukrainer ist für den Einsatz an der Front bereit.

Kiew – Jeden Tag veröffentlicht das ukrainische Verteidigungsministerium die aktuellen Verlustzahlen der russischen Armee und prahlt mit den eigenen Erfolgen im Ukraine-Krieg. Doch auch die Streitkräfte Kiews haben in den vergangenen Monaten erhebliche Verluste verzeichnet. Allen voran der brutale Kampf um die Stadt Bachmut hat auf beiden Seiten im Krieg große Opfer gefordert. Die Ukraine braucht jedoch eine Vielzahl Soldaten für die bevorstehende Gegenoffensive.

Rekrutierungen in der Ukraine – Videos zeigen brutale Situationen

Bei der Rekrutierung neuer Streitkräfte greift Kiew offenbar auch zu brutalen Mitteln. Das Portal Radio Free Europe hat bereits im März Videos veröffentlicht, die das harte Durchgreifen der Rekrutierungsoffiziere in ukrainischen Städten zeigen. Auf einem der Videos klammert sich ein potenzieller Rekrut mit aller Kraft an einem Straßenschild fest, ehe er von drei Soldaten gewaltsam losgerissen wird. Andere Aufnahmen zeigen, wie ein Mann von den Rekrutierungsoffizieren gegen seinen Willen in ein Auto gezogen wird.

Ein ukrainischer Offizieller bekräftigte gegenüber Radio Free Europe, dass es sich bei den Videos um Einzelfällen handle. Diese zeigen jedoch, dass nicht alle Ukrainer sich am Krieg beteiligen wollen. Die hohen Verluste an der Front entfalten bei der Rekrutierung ihre Wirkung.

Präsident Wolodymyr Selenskyj rief bereits wenige Tagen nach der russischen Invasion im vergangenen Februar die Generalmobilmachung aus. Nach Angaben der Behörden dürfen Männer im kampffähigen Alter – zwischen 18 und 60 Jahren – das Land seitdem nicht verlassen und können jederzeit für den Kriegsdienst eingezogen werden.

Generalmobilmachung in der Ukraine – so wollen Ukrainer dem Kriegseinsatz entgehen

Der Schritt unterscheidet die ukrainische Armee von den russischen Gegnern. Kreml-Chef Wladimir Putin hat bislang bewusst darauf verzichtet, eine Generalmobilmachung in Russland auszurufen. Das hängt auch mit der Moskauer Propaganda mit Blick auf die Ukraine zusammen. Nach wie vor bezeichnet die russische Führung den Krieg als „militärische Spezialoperation“. Für diesen Schritt erhielt Putin immer wieder Kritik. Unter anderem vom ehemaligen Separatistenführer Igor Girkin.

Doch die ukrainische Mobilmachung hat auch ihre Schattenseiten. All die schrecklichen Bilder des vergangenen Kriegsjahrs, die Belagerung von Mariupol, die Grabenkämpfe um Bachmut und die Berichte von russischen Kriegsverbrechen. Sie haben dafür gesorgt, dass viele Männer einer Einberufung aus dem Weg gehen wollen. Sie organisieren sich dafür unter anderem in Kanälen auf Telegram, um sich über die Position von Rekrutierungsoffizieren auszutauschen. Einer dieser Kanäle für die ukrainische Hauptstadt – „Kyiv Povestka“ – hat über 72.000 Mitglieder. Diese müssen jeden Tag befürchten, bei einem Spaziergang im Park für den Kriegsdienst rekrutiert zu werden.

Für Frühjahrs-Offensive gegen Russland – Kiew stellt „Sturm-Gruppen“ zusammen

Um die in den nächsten Wochen erwartete Gegenoffensive erfolgreich zu gestalten, braucht Kiew jedoch mehr Soldaten. Dafür hat die Regierung bereits im Februar die Rekrutierungskampagnen für sogenannte „Sturm-Gruppen“ gestartet. Diese unterstehen dem Innenministerium und sollen an der Seite der Armee gegen die russischen Invasoren kämpfen. „Für sie ist das Ziel die Befreiung der Ukraine“, sagte der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Dafür will sein Haus insgesamt 40.000 Soldatinnen und Soldaten in acht Gruppen rekrutieren. Das Training für Rekruten ohne militärische Vorkenntnisse dauert lediglich vier Monate.

Bei der Ausbildung von Rekruten erhält die Ukraine aber auch Unterstützung aus der Nato. So gab das britische Verteidigungsministerium im Februar bekannt, 10.000 Ukrainer an verschiedenen Standorten in Großbritannien für den Kampfeinsatz ausgebildet zu haben. Gemeinsam mit den andauernden westlichen Waffenlieferungen sollen die Rekruten dann zum Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive beitragen.

Ex-Militär über Ukraine-Krieg – Für erfolgreiche Gegenoffensive „braucht man mehr Kräfte“

Doch die mangelnde Erfahrung der Rekruten könnte sich dabei als Herausforderung erweisen. Der frühere Leiter der US-Streitkräfte in Europa, Generalleutnant a.D. Mark Hertling, äußerte sich in der vergangenen Woche besorgt über den Zustand der ukrainischen Armee. Hertling war selbst an der Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte im vergangenen Jahrzehnt beteiligt gewesen. „Dies sind Soldaten und Anführer, die durch ihre Anwesenheit die ukrainische Armee verändert haben. Viele von ihnen sind jetzt nicht mehr da, geopfert für ihr Land“, schrieb Hertling in einem Beitrag auf Twitter.

Ihor Romanenko, ukrainischer Generalleutnant im Ruhestand, hielt die Rekrutierung weiterer Soldaten für notwendig. „Nein, die gegenwärtigen Soldaten reichen nicht aus, denn der Gegner drängt vorwärts. Und wir reden gerade über die Gegenoffensive. Um diese zu starten, braucht man mehr Kräfte“, sagte Romanenko Anfang März in einem Gespräch mit tageschau.de. Die Mobilmachung in der Ukraine dürfte also andauern. (fd)

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