Merkel wirbt für Patriotismus statt Nationalismus

Bei der Haushaltsdebatte des Bundestags kämpft Kanzlerin Angela Merkel für den Migrationspakt - und andere um ihr Amt.
Es ist Anspannung im Raum, eine ungewöhnliche Anspannung. Wortlos sitzt die AfD-Vorsitzende Alice Weidel neben ihrem Kollegen Alexander Gauland in der ersten Reihe des Bundestagsplenarsaals.. Die Bundeskanzlerin läuft herum, spricht zuletzt doch noch mit ihrem widerspenstigen Gesundheitsminister Jens Spahn.
Der streckt sein Kinn besonders weit nach oben. Und als Merkel ihre Rede gehalten hat, mit einem Plädoyer für Europa und die UN, das sie ungewöhnlich flammend vorträgt, verzichtet die erste Reihe der SPD-Fraktion auf Applaus.
Es ist also eine besondere Debatte, diese turnusmäßige Parlamentsaussprache über den Bundeshaushalt. Und ein Grund ist wohl, dass nun absehbar ist, dass auf dem Kanzlersitz bald jemand anderes Platz nimmt.
Merkel hat ihren Rückzug als Parteichefin angekündigt. Es ist unsicher, ob sie mit einem neuen Parteichef Kanzlerin bleiben wird. Aber genauso wackelig sind die Jobs von SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, die mit den Umfrage-Abgründen ihrer Partei zu kämpfen hat, von Sahra Wagenknecht, die mit Äußerungen zur Migrationspolitik Teile ihrer Linksfraktion in Aufstandsstimmung gebracht hat. Und die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel hat der Partei ein Parteispendenproblem beschert.
Vier Frauen unter Druck also, und zwei Männer noch mit dazu: FDP-Chef Christian Lindner, der gerne aufsteigen würde in die Regierung. Und bei der Union der neue Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus, der in dieser labilen Lage alles irgendwie zusammenhalten muss.
Es geht also um mehr als um den Haushalt an diesem Tag. Es geht auch um Selbstbehauptung. Und Alice Weidel ist als erste Rednerin an der Reihe und macht es so: Sie wirft der Regierung eine „Politik der Spaltung“ vor und Merkel „ideologische Weltbeglückungsphantasien“.
Weidel startet Ablenkungsmanöver
Dann geht es vor allem um Spenden: „Fehler macht jeder“, sagt sie zu ihrem eigenen Fall. „Das kann passieren, wenn man alles ehrenamtlich macht.“ Minutenlang listet Weidel Spendenfälle der anderen Parteien auf. „Moralische Vorhaltungen müssen wir uns von Ihnen nicht machen lassen.“ Die sind nicht besser als wir, wir nicht schlechter als die – zumindest bisher war das nicht das AfD-Motto.
Von der Kanzlerin kommt die sehr trockene Bemerkung: „Das Schöne an freiheitlichen Debatten ist, dass jeder über das spricht, was er für das Land für richtig hält.“ Bei Merkel sind das zwei Schwerpunkte: Die Digitalisierung und die internationale Zusammenarbeit. Digitalisierung, das ist eines von Merkels Lieblingsthemen. Diesmal schwärmt sie von einem Behördenportal für Steuererklärungen und Fahrzeuganmeldungen. „Das ist kein Nerdprojekt“, sagt sie.
Und kommt dann zum UN-Migrationspakt, der von AfD und Teilen der Union in Frage gestellt wird. Leidenschaftlich wird sie da und fängt ganz von vorne an: Bei den Vereinten Nationen als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, bei der Bedeutung internationaler Zusammenarbeit, bei der Zahl der Konflikte in der Welt, von denen sich Deutschland nicht abkoppeln könne.
Es sei wichtig „Flucht und Migration im internationalen Kontext zu lösen“, ruft Merkel. „Niemand braucht zu glauben, irgendein Land könne das allein.“ Wer auf Alleingänge setze, liege falsch. „Das ist Nationalismus, das ist kein Patriotismus.“ Viele Sätze kullern da aus Merkels Mund, sie löst sich vom Pult. „Deutsches Interesse heißt immer, die Interessen der anderen mitzudenken“, schließt Merkel. Eine AfD-Frau brüllt empört. Die SPD-Führung sitzt unbewegt auf ihren Plätzen. Am Vorabend ist man im Koalitionsausschuss zusammengesessen, vielleicht denken sie daran beim Stichwort „Interessen der anderen mitdenken.“
Dann sind da noch die Interessen der FDP. Deren Chef Christian Lindner hat gerade kundgetan, dass es ihn ein Jahr nach seinem Ausstieg nun doch drängt, eine Jamaika-Koalition mit Grünen und Union zu versuchen. Sein Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann antichambriert vor der Sitzung fröhlich gestikulierend bei Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer. Lindner befindet in seiner Rede, die Regierung sei eigentlich am Ende, weil künftig keiner ihrer Parteichefs mehr im Kabinett sitzen werde. „Wenn Parteien so auf Distanz zu ihrer Regierung gehen, stehen wir nicht am Anfang sondern werden Zeugen des Endes. Das kann auch befreiend wirken“, ruft Lindner. 2018 sei mit der großen Koalition schließlich ein verlorenes Jahr gewesen und im Übrigen habe einer seiner Kollegen heute Geburtstag.
Andrea Nahles, deren Partei mit der Rolle als Regierungspartei hadert, hat sich für Zurückhaltung entschieden. Sehr nüchtern listet sie die Beschlüsse der Koalition auf und das, was sie noch für nötig hält: Weltweite Mindestbesteuerung, Digitalsteuer, Ende des Kooperationsverbots in der Bildungspolitik – und Internetverbindung auch für ihr Dorf in der Eifel. Sie schnappt sich den Sicherheitsbegriff der Union und definiert ihn um, von Polizei auf Rente: „Sicherheit ist auch, im Alter gut zu leben.“ Ähnlich wird es danach Wagenknecht halten: Ein sicheres Zuhause sei eines „wo man wohnen kann ohne von der nächsten Mieterhöhung verdrängt zu werden“. Bei Nahles Rede ist es erstmals richtig still im Saal.