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„Die Menschen sind fremdbestimmt“

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Von: Nadja Erb

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Schwierige Zustände: Das Leben in großen Flüchtlingsunterkünften kann auf Dauer Probleme verursachen
Schwierige Zustände: Das Leben in großen Flüchtlingsunterkünften kann auf Dauer Probleme verursachen © imago

Der Psychologe Michael Krämer spricht im FR-Interview über das Leben in Massenunterkünften.

Herr Krämer, was verstehen Sie als Psychologe unter Lagerkoller?
Der Fachbegriff für eng gedrängtes Zusammenleben ist Crowding. Folgen sind das Fehlen von Privatheit, von Rückzugsmöglichkeiten, sich ständig mit anderen arrangieren zu müssen. Unterschiedliche Interessen nicht in dem Maße ausleben zu können, wie man das in den eigenen vier Wänden könnte. Es sind sehr viele Phänomene, die da auftauchen.

Welche Faktoren sind aus ihrer Sicht besonders kritisch?
Entscheidend ist die Frage, ob ich mich freiwillig in eine solche Situation begeben habe oder ob ich dazu gezwungen werde. Denn das ist maßgeblich für die Motivation, sich zu arrangieren. Wenn jemand diese Lagerkoller-Situation als etwas sieht, mit dem sich eine noch viel schlimmere Lage vermeiden lässt, ist das besser, als wenn jemand völlig unvorbereitet in eine solche Situation gerät. Eine große Rolle spielt auch, mit wem man dort zusammen ist. Wenn das die eigene Familie ist, die sehr eng gedrängt wohnt, kann das lange Zeit völlig unproblematisch sein.

Geflüchtete haben in den Großunterkünften aber nicht nur Verwandte und Freunde um sich.
Dann ist von Bedeutung, welchem Kulturkreis die Menschen angehören, die auf engstem Raum zusammenleben. Ein ähnlicher Lebensstil ist weniger kritisch als völlig unterschiedliche Verhaltensweisen. Wann wird etwas als laut erlebt, zum Beispiel. Die einen sagen, das ist lebhaft, die anderen, das ist unerträglicher Lärm. Und gerade Lärmschutz ist etwas, das in Flüchtlingsunterkünften kaum gewährleistet ist. Da zählen ja ganz andere Dinge.

In solchen Massenunterkünften ist die Fluktuation groß. Der Einzelne muss sich also gezwungenermaßen mit täglich neuen Fremden auseinandersetzen. Was löst das aus?
Es trägt zur Unsicherheit bei. Das wirkt bei allen ähnlich, unabhängig vom kulturellen Hintergrund. Man muss sich immer wieder aufs Neue bekannt machen, eine gemeinsame Basis finden, sich gegenseitig bestätigen, dass es eine Bereitschaft zur Kommunikation gibt. Das ist anstrengend und kann zu größerer Erschöpfung führen. Umso wichtiger sind Möglichkeiten der Erholung und Regenerierung, damit der erhöhte Stress nicht zu dauerhaften Schädigungen führt.

Können Sie sagen, nach welcher Zeitspanne unweigerlich Lagerkoller ausbricht?
Nein. Das hängt von vielen Faktoren ab und ist nicht bei allen Menschen identisch. Es gibt sicher eine Reihe von Personen unter uns, die das eine ganze Weile klaglos aushalten würden, und andere würden schon nach dem dritten Tag unruhig werden, weil sie sich mit so einer Situation viel schlechter arrangieren können. Fest steht: Wenn Erholungsphasen fehlen, die Person sich zunehmend unwohl fühlt, der Stress zunimmt, dann wächst die Gefahr der Aggression.

Ändert sich unter solchen Bedingungen die Persönlichkeit der Betroffenen?
Das muss nicht sein. Eine Person, die in sich ruht, wird auch unter solchen Umständen nicht plötzlich ausrasten. Eine Person, die zuvor schon schnell aggressiv wurde, wird das dann auch schneller ausleben. Was sich ändern kann, ist das Verhalten. Die Menschen versuchen, den Stress, der durch die Enge entsteht, zu kompensieren, sich herauszuziehen. Auf Dauer hängt alles davon ab, ob es eine Perspektive gibt, eine Handlungsoption, oder nicht. Es ist leichter, eine solche Unterbringung zu ertragen, wenn man weiß, dass sie zeitlich befristet ist. Wenn die Perspektive fehlt, wird es schwierig.

Entspricht das Zusammenleben in der Gruppe denn nicht der Natur des Menschen?
Der Mensch hat das natürliche Bedürfnis nach Nähe, das stimmt. Aber wie eng wir mit anderen Menschen zusammenleben wollen, ist kulturell geprägt. In der westlichen Welt wird die Primärfamilie immer kleiner, es entwickeln sich tendenziell kleinere Einheiten des Zusammenlebens. In den Großstädten leben mehr als die Hälfte der Personen in Singlehaushalten. In anderen Kulturen ist das anders, da leben teilweise ganze Großfamiliengruppen unter einem Dach. Schwierig wird es aber genau dann, wenn die Selbstbestimmung eingeschränkt wird und Menschen unabhängig von ihrer Prägung und ihren Wünschen in ein fremdbestimmtes System integriert werden.

Was löst dieser Zwang bei den Betroffenen aus?
Jeder Mensch reagiert da anders. Eine destruktive Möglichkeit ist es, den Ausweg aus der als unerträglich empfundenen Lage in Drogen oder Alkohol zu suchen. Andere Menschen zeigen Rückzugsverhalten mit negativen Gedanken, die sich bis zu einer Depression auswachsen können. Andere werden dünnhäutig und leicht reizbar, bis zu aggressiven Reaktionen auf ganz nichtige Anlässe. Diese Aggression kann sich gegen sich selbst richten, aber auch gegen Unbeteiligte.

Wie kann man den unterschiedlichen Problemen begegnen?
Wenn jemand, der in einer solchen Unterkunft lebt, im Laufe des Tages für die Gemeinschaft oder für sich selbst ein festes Programm hat, das Sinn gibt und Erfolgserlebnisse mit sich bringt, dann werden die schwierigen Wohnverhältnisse nicht so stark im Vordergrund stehen. Wenn eine Person keine Aufgabe hat oder sich mit einer konfrontiert sieht, die sie nicht bewältigen kann, nimmt der Druck massiv zu. Dann werden auch die Wohnverhältnisse als noch belastender erlebt.

Eine sinnvolle Betätigung ist das eine. Was müsste bei der Einrichtung der Unterkünfte beachtet werden, um den Lagerkoller möglichst gering zu halten?
Es geht weniger darum zu sagen, ein Schlafraum muss soundso viele Quadratmeter haben oder die Spielfläche muss soundso groß sein. Viel wichtiger ist, dass die Bewohner Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitbestimmung haben. Damit etwas, das vorübergehend Heimat sein soll, auch als privater, eigener Raum erlebt werden kann. Das ist umso wichtiger, wenn die Perspektive, was die Aufenthaltsdauer betrifft, unklar ist.

Muss es so etwas wie Rückzugsräume geben, in denen sich Bewohner auch mal einschließen und für sich sein können?
Das könnte ein Mittel der Gestaltung sein, wenn sie die Gruppe der Bewohner für wichtig hält und nach ihren Bedürfnissen nutzen kann. Bevor man solche Räume einrichtet, muss man also zunächst gemeinsam mit den Bewohnern überlegen, was sie sich wünschen. Sonst entstehen nur neue Konflikte, wenn die einen gern einen Gebetsraum hätten, die anderen aber ein Musikzimmer. Da sind die für die Unterkunft Verantwortlichen gefragt.

Es muss also darum gehen, das Gefühl von Zwang, von Eingesperrtsein zu mindern?
Ja. Mal angenommen, die Unterkunft ist von einem hohen Zaun umgeben. Der kann sinnvoll sein und den Bewohnern Schutz gegen Übergriffe bieten. Er kann aber auch als Gefängnisumgebung wahrgenommen werden. Deshalb ist es wichtig, den Schutzgedanken zu vermitteln, mit Wachpersonal, das den Bewohnern freundlich und offen gegenübertritt. Mit einer Gestaltung, die den Zaun von innen weniger bedrohlich wirken lässt. Solche Dinge sind bedeutsam.

Wie sieht es mit psychologischer Hilfe aus?
Wachleute, Helfer, Übersetzer wurden längst eingestellt. Doch was professionelle psychologische Hilfe angeht, tut sich die Politik schwer. Das ist bedauerlich, weil es sehr wichtig wäre, da Angebote zu machen.

Wie sollten diese Angebote aussehen?
Diese psychologische Unterstützung dürfte nicht mit Behandlungsbedürftigkeit gleichgesetzt werden. Da gibt es unter manchen Geflüchteten große Ängste, als verrückt deklariert zu werden. Es geht also nicht darum, psychisch Kranke zu therapieren, sondern Traumatisierten Hilfestellung zu leisten oder Menschen in der schwierigen Situation zu begleiten, die Sie Lagerkoller nennen, damit aus Stress, Unsicherheit und Ängsten keine neuen Verletzungen entstehen. So können Konflikte vermieden und es kann auf langfristige Integration hingearbeitet werden.

Interview: Nadja Erb

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