Meinungsfreiheit: „Belarus ist ein Land ohne Medien“

Der Forscher Siarhei Bohdan spricht im Interview über das politische System in Belarus und die Fehler des unabhängigen Journalismus.
Gibt es in Belarus noch so etwas wie die Wahrheit oder nur noch Propaganda der Regierung?
Die Situation ist komplexer. So sind beispielsweise auch die jüngsten Kampagnen der Opposition schlimmer geworden. Früher war klar, dass die Medien, die nicht mit der Regierung verbunden sind, objektiver über die Realität berichten. Leider ist es seit 2020 so, dass die oppositionellen Medien der Meinung sind, dass radikale Berichterstattung über objektivem Journalismus steht. Genauso problematisch ist die Einstufung von ausländischen Medien, die für die Berichterstattung über Belarus wichtig sind. Warum wird beispielsweise ein polnisches Medium als unabhängig eingestuft, nur weil es gegen das belarussische Regime berichtet?
Einige Medien haben ihren offiziellen Pressestatus verloren. Welche Auswirkungen hat das?
Die wichtigsten Medien wurden verboten, es ist so gut wie nichts mehr da. Die kritischen Medien, die es noch gibt, arbeiten aus dem Ausland. Und dieses Vakuum, das entstanden ist, wurde auch nicht von der Regierung gefüllt. Diese ist der Meinung, dass eine Kommunikation durch öffentliche Stellen ausreichend ist. Gleichzeitig sind aber ihre Webseiten monatelang nicht erreichbar. Teilweise funktionieren sie auch nicht im Ausland. Also will die Regierung eigentlich gar nicht kommunizieren. Belarus ist also sozusagen ein Land ohne Medien.
Staatsapparat: Belarus hat ohne Ideologie auch nichts zu verbreiten
Aber man würde doch erstmal davon ausgehen, dass die Regierung ihre Inhalte so breit wie möglich streuen möchte.
Genau diese Annahme ist ein Fehler. Das belarussische Regime wird oft mit der Sowjetunion verglichen, was sehr falsch ist. Die Sowjetunion war ein marxistischer Staat mit einem starken ideologischen Apparat. Die Ideologie war sehr weit entwickelt. Belarus jedoch hat gar keine Ideologie. Es gibt eine gewisse Treue zur Nation, aber diese ist nicht weiter definiert. Ohne Ideologie gibt es also auch nicht viel, was der Staat verbreiten könnte.
Aktuell sitzen 32 Journalist:innen in belarussischen Gefängnissen. Wie geht der Staat dabei vor?
Die Regierung hat zwei Instrumente: Gewaltandrohung und Verhaftung. Oft werden sie mit einer Anklage verhaftet, die an den Haaren herbeigezogen ist. Danach kommen weitere hinzu. Wir können jeden beliebigen Fall nehmen und sehen, dass es keinerlei Beweise für die Vorwürfe gibt. Seit dem Ende des Kommunismus ist die Regierung primitiver geworden. Das Problem des Regimes ist aber nicht seine vermeintliche Stärke. Denn so stark ist es nicht. Selbst schwache, unorganisierte Demonstrationen können zu einem Schock führen. Das ist kein Regime, das sich auf Geld, noch Ideologie, noch Religion stützt. Das Regime ist extrem schwach, aber ist trotzdem da, weil es keine politische Alternative gibt, die das Volk überzeugt. Das ist ein Problem, das auch aus der Medienarmut entstanden ist. Und die Nichtregierungsmedien, die es noch gibt, schaffen es nicht, eine Alternative zur Regierung zu formulieren.
Belarus
Seit 1994 ist Alexander Lukaschenko Präsident des osteuropäischen Landes, das unter anderem an die Ukraine und an Russland grenzt. Nicht zuletzt seit dem mutmaßlich gefälschten Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 wird er auch als der „letzte Diktator Europas“ bezeichnet. Bereits im Vorfeld dieser Wahl gab es Massenproteste im 9,4-Millionen-Einwohner:innen-Land, die nach Bekanntgabe des Ergebnisses noch mehr Zulauf bekamen. Mehr als 33 000 Menschen wurden im Zuge der Demonstrationen verhaftet.
Lukaschenko, der als putinnah gilt, hat in seiner Zeit als Präsident die Presse stetig mit neuen Einschränkungen belegt. Im diesjährigen Pressefreiheitsindex von „Reporter ohne Grenzen“ belegt Belarus Rang 153 von 180. einen der hintersten Plätze. Aufsehenerregend war Lukaschenkos Verbot diverser Medien, allen voran des kritischen Onlinemediums „tut.by“ im Jahr 2020. Das Portal wurde von rund 63 Prozent der belarussischen Nutzer:innen aufgerufen. Die Opposition ist seitdem von ausländischen, vorrangig polnischen Medien abhängig, oder von sozialen Netzwerken, wie dem Messengerdienst Telegram. prbk
Belarus: Lukaschenko versuchte eine Neutralitätspolitik zu fahren
Teil dieses Medienversagens ist also, dass diese Medien lieber eigene Ziele verfolgen, statt objektiv zu berichten.
Genau. Es gab wie gesagt Medien, die objektiv berichtet haben, aber diese wurden genauso brutal von der Regierung behandelt wie die radikaleren Oppositionsmedien. Das schlimmste Beispiel für mich ist das Verbot des Mediums tut.by nach den Wahlen 2020. Hier wurden auch viele moderate Journalisten verhaftet, die mit der Regierung eigentlich auch reden wollten. 2010 kamen sich Opposition und Regierung eigentlich näher, weil Lukaschenko auch versuchte, eine Neutralitätspolitik zwischen Russland und dem Westen zu fahren, das hat sich nach 2020 aber schnell geändert.
Gefährden also auch diese Medien der Opposition durch ihre Arbeit die Aussicht auf eine demokratische Entwicklung in Belarus?
Demokratie ist keine Stimmenabgabe, Demokratie ist Transparenz. Im Idealfall gibt man seine Stimme bei Wahlen erst ab, wenn man weiß, für wen man stimmt. Wenn einen Medien über die Optionen informieren, die zur Wahl stehen. 2020 hat das schlecht funktioniert. Die alternativen Medien haben unter den Tisch fallen lassen, dass der führende Oppositionskandidat Gazprom nahe steht. Nach den Wahlen kam die Information, dass Russland Truppen in Belarus stationieren will. Die Oppositionsmedien meinten, das seien nur Gerüchte, obwohl es von den Truppen bereits Fotos gab. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, dass die Medien inzwischen für eine Seite kämpfen.

Belarus: Berichterstattung wiederholt Kreml-Narrative
Also gilt der Grundsatz: Ein guter Journalist ist kein Aktivist.
Richtig, und das war bis 2010 auch möglich. Man konnte als Journalist auch die Nato oder die USA kritisieren. Das geht heute nicht mehr. Heute hinterfragen viele vermeintlich kritischen Medien die Opposition überhaupt nicht mehr.
Hat der Krieg in der Ukraine etwas an der Situation geändert?
Die Berichterstattung der Regierung wiederholte Kremlnarrative, erst in den vergangenen Wochen hat sich das geändert, nachdem einige russische Truppen von Belarus abgezogen sind und Russland auf eine Invasion Kiews verzichtet hat. Nachdem viele Journalisten 2020 staatliche Medien verlassen haben, haben diese Medien viele russische Journalisten eingestellt. Aber den Einfluss der russischen Narrative darf man nicht überschätzen. Was bei der russischen Bevölkerung funktioniert, funktioniert nicht bei einem Land, das sich in den vergangenen 30 Jahren weg von Russland entwickelt hat. Selbst Lukaschenko will keinen Krieg, sondern Stabilität. (Interview: Baha Kirlidokme)