Mehr Emissionen trotz CO2-Deckel

Ein Institut untersucht die Auswirkungen eines längeren Betriebs von Kohlekraftwerken.
Mehr CO2-intensiver Kohlestrom in Deutschland sei klimapolitisch kein Problem, weil die Emissionen im europäischen Emissionshandel „gedeckelt“ sind, ist seit Wochen zu hören. Zweifel daran hat eine jetzt veröffentlichte Analyse des Berliner Beratungsinstituts Energy Brainpool bestätigt.
Wer Lohn oder Gehalt bezieht, kennt sich mit brutto und netto aus: Vom Brutto, das auf dem Lohnzettel steht, gehen Sozialversicherung und anderes ab – auf dem Konto landet das Netto. Auch beim Strom gibt es so einen Unterschied. Was im Kraftwerk an Strom erzeugt wird, ist erstmal ein Brutto. Gerade konventionelle Kraftwerke benötigen auch selbst Strom für ihren Betrieb. Eingespeist ins Netz wird dann die Differenz, die netto erzeugte Strommenge.
Beim Europäischen Emissionshandelssystem ETS gibt es ebenfalls so etwas wie brutto und netto. Ende letzten Jahres einigten sich EU-Parlament, Europäische Kommission und EU-Staaten im üblichen Trilog-Verfahren auf eine Reform des Emissionshandels, konkret des „ETS 1“, der Energiewirtschaft und Industrie erfasst. Das wurde 2005 eingeführt und erfasst rund 40 Prozent des CO2-Ausstoßes der EU.
Die laufende Reform soll den Emissionshandel verschärfen, damit die EU näher an den Pariser 1,5-Grad-Pfad kommt. Zustimmen müssen der Reform noch die Regierungen der EU-Länder.
Nach vorliegenden Angaben soll mit der ETS-Reform in der laufenden vierten Handelsperiode von 2021 bis 2030 die Emissionsobergrenze, das sogenannte Cap, von bisher knapp 13,8 Milliarden auf 12,3 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent sinken, also um etwa 1,5 Milliarden Tonnen. Es wird insofern eine schärfere Obergrenze geben, die die Klimaemissionen aus Energie und Industrie begrenzt.
Die umstrittene Frage ist: Was passiert im Emissionshandel, wenn es – wie in Deutschland 2022 geschehen – wegen der Gaskrise zu Mehremissionen in der Energiewirtschaft kommt? Die vermehrte Kohleverstromung führte letztes Jahr zu zusätzlichen Emissionen von 15,8 Millionen CO2, ergab jetzt eine Studie der Berliner Beratungsfirma Energy Brainpool im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy.
Bei den 15,8 Millionen Tonnen handle es sich um echte Mehremissionen, betonen die Analysten. Auch bewirke der europäische Emissionshandel aufgrund seiner Regeln keinen Ausgleich durch Minderemissionen in der Zukunft. Das klingt paradox: Es gibt eine Obergrenze, ein „Cap“, und trotzdem kommt es zu Mehremissionen.
Um das zu verstehen, muss man einen Blick zurück in die Geschichte des Emissionshandels werfen. Dieser krankte in den Anfangsjahren daran, dass es viel zu viele Emissionsberechtigungen gab und der CO2-Preis viel zu niedrig war. Als Reaktion darauf beschloss die EU 2014, die Versteigerung von Emissionsberechtigungen für 900 Millionen Tonnen CO2 auf 2019 zu verschieben, das sogenannte „Backloading“.
2015 gab es dann den Beschluss, diese Menge nicht – wie ursprünglich geplant – 2019 am Emissionsmarkt zu versteigern, sondern in eine Marktstabilitätsreserve (MSR) zu überführen.
Um den CO2-Preis nicht ins Bodenlose fallen zu lassen, rechneten die Fachleute schon damals damit, dass es 2023 zu einer massiven Löschung von Emissionsrechten kommt von mehr als einer Milliarde Tonnen CO2.
Tatsächlich sammelten sich bis Ende 2021 in der Marktreserve insgesamt Zertifikate für 2,6 Milliarden Tonnen CO2 an, beziffert Energy Brainpool. Diese stehen Energiewirtschaft und Industrie derzeit nicht als Emissionsrechte zur Verfügung.
So gibt es im ETS praktisch eine Bruttomenge – die mit der Reform festgelegte Obergrenze, das „Cap“ – sowie davon abzuziehende Emissionsrechte in der Marktreserve (MSR). Das wäre so etwas wie ein Netto.
Normalerweise würde ab 2023 auch ein Großteil der in der MSR angesammelten Zertifikate endgültig gelöscht und damit CO2-Emittenten nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Verknappung ziele darauf ab, das CO2-Preissignal für klimafreundlichere Investitionen zu verstärken, schreiben die Analysten.
Dem Löschungsplan kommen jetzt aber die Mehremissionen aus der Kohleverstromung in die Quere. Der Weiterbetrieb der Kohlekraftwerke im Jahr 2022 und die Regeln des ETS verhindern, so Energy Brainpool, die Löschung von Zertifikaten im MSR von zunächst 24 Prozent der zusätzlich emittierten 15,8 Millionen Tonnen. In drei weiteren Schritten würden dann nahezu die gesamten Mehremissionen 2022 aus der Marktreserve fallen.
Im Ergebnis werden also weniger Zertifikate aus der Marktreserve gelöscht. Und statt gelöscht zu werden, werden sie von den ETS-pflichtigen Unternehmen in Energiewirtschaft und Industrie mit entsprechendem CO2-Ausstoß genutzt werden. Bildlich gesprochen: Auf dem „Topf“ des EU-Emissionshandels bleibt zwar ein Deckel drauf, der Topf unter dem Deckel wird aber durch die Nicht-Löschung größer.
Und weil dem deutschen zusätzlichen CO2-Ausstoß auch ein reales Mehr an Zertifikaten gegenübersteht, gibt es auch keinen Zwang, das Mehr durch Minderemissionen auszugleichen.
Aus Sicht der Berater:innen gibt es mehrere Handlungsoptionen, um drohende Klimaschäden abzuwenden. So könnte das deutsche Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz so geändert werden, dass auch Mehremissionen infolge eines krisenbedingten Weiterbetriebs von Kohlekraftwerken kompensiert werden können. Auch könne die europäische Klimapolitik sich des Problems im Rahmen der noch laufenden ETS-Reform und der EU-Auktionsverordnung annehmen.