Kühnert und Spahn streiten bei „Illner“ heftig – BDI-Chef sieht „Grundfesten“ der Industrie schon in Auflösung

Steht die deutsche Industrie angesichts hoher Energiepreise vor dem Aus? Maybrit Illner wollte von ihren Gästen konkrete Gegenmaßnahmen hören.
Berlin – SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert schmeckt sichtlich überhaupt nicht, was Unions-Fraktionsvize Jens Spahn im ZDF-Polit-Talk bei Maybrit Illner ankündigt: Die Union werde Olaf Scholz‘ 200-Milliarden-„Wumms“ bei der Abstimmung im Bundestag ablehnen, sagt Spahn.
„Sie können von einer Opposition nicht erwarten, dass wir ihnen einen Blankoscheck rüberreichen“, erklärt der Ex-Gesundheitsminister Kühnert. Die beiden sitzen sich in der Sendung unter dem Titel „Energie, Krise, Inflation – trifft es Deutschland am härtesten?“ direkt gegenüber. Es fehle bei dem Gesetzentwurf schlichtweg die Erklärung, wofür die Mittel denn eingesetzt werden sollen.
„Maybrit Illner“ - diese Gäste diskutierten mit:
- Kevin Kühnert (SPD) - Generalsekretär
- Jens Spahn (CDU) - Unions-Fraktionsvize
- Sarah-Lee Heinrich (Die Grünen) - Sprecherin der Grünen Jugend
- Prof. Siegfried Russwurm - Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI)
- Prof. Gabriel Felbermayr - Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO)
- Helene Bubrowski - Korrespondentin in der Parlamentsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der SPD-Mann ist von der Nachricht sichtlich angefasst. Er appelliert wohl mehr an die Zuschauer als an Spahn: „Wenn wir es ernst meinen mit dem Bekenntnis, unseren industriellen Kern zu wahren und damit das, was unseren Arbeitsmarkt, unsere Sozialsysteme stark macht, dann haben wir aber richtig Glück gehabt am Ende, wenn wir mit den 200 Milliarden zurande kommen“. Es ist Illner, die die Zahl in einen Kontext packt und erinnert, dass sich die Corona-Hilfen auf 600 Milliarden Euro beliefen.
Kühnert ist die Kritik an der Höhe der Ausgaben ohnehin zu pauschal. Es sei nicht die Frage, wie viel derzeit ausgegeben werde, so der SPD-General, sondern wofür. Wichtig sei allein, so der SPD-Mann, dass das Geld „für den Substanzerhalt“ eingesetzt werde – und gibt mit dieser Argumentation Spahn Recht, der eben genau diese Rückversicherung gefordert hatte.
„Illner“ im ZDF: Spahn grundsätzlich für Fracking in Deutschland
„Bis 2030 werden wir uns entscheiden müssen“, sagt Spahn in Hinblick auf die Frage, welcher der herkömmlichen Energieträger wie „Gas, Kohle oder Kernkraft“ als „Backup“ in Kraft treten soll, um „an einem Abend wie diesem Strom zu produzieren“. Die erneuerbaren Energien seien nicht ausgereift genug um damit die deutsche Schwerindustrie zu erhalten, meint der Oppositionspolitiker und spricht sich auf Nachfragen Illners auch für die Förderung von Fracking-Gas in Deutschland aus.

Diese Idee kritisiert Grüne-Jugend-Sprecherin Sarah-Lee Heinrich: „Wenn wir mehr fossile Energien brauchen, dann hat die Bundesregierung die Frage zu beantworten, wie wir das kompensieren werden“, fordert sie und malt direkt das Worst-Case-Szenario des Klimawandel an die Wand: „Ehrlich gesagt gibt es keine Wirtschaft auf einem toten Planeten.“
Ampel und die Energiekrise – BDI-Chef warnt bei „Illner“: „Grundfesten des Industrielandes in Auflösung“
Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, fordert von der politischen Führung eine klar formulierte Neuausrichtung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wenn die energieintensive deutsche Industrie nicht mehr mit günstigen Gaspreisen rechnen kann, müsse sie wissen: „Was ist denn der neue Normalzustand?“ Ansonsten drohe die Abwanderung von Unternehmen, die sich ohne Planungsaussicht die Produktion im Land schlichtweg nicht mehr leisten könnten.
Russwurm warnt, die „Grundfesten dieses Industrielandes“ befänden sich bereits in Auflösung. Schon jetzt überlegten selbst „echte Patrioten“ unter den deutschen Wirtschaftsführern, ob sie statt in Deutschland besser in den USA investieren. „Dann ist wirklich das Geschäftsmodell dieses Landes in Gefahr“, so Russwurm. Auch Spahn bekundet: „Keiner investiert gerade in Deutschland“. Er unterstützt den Wunsch des BDI-Chefs nach mehr Planbarkeit für die Wirtschaft.
Auch Kühnert teilt die Bedenken zur „internationalen Konkurrenzfähigkeit“ und stellt Russwurm eine politische Antwort in Aussicht: „Wir werden so sicher wie das Amen in der Kirche spätestens Anfang nächsten Jahres über einen Industriestrompreis zu sprechen haben.“ Die Regelung werde „signifikant“ ausfallen, sagt Kühnert und fordert auch Spahn zum Handeln auf – statt zur Blockade: „Es kann sich nur eine Wirtschaft transformieren, die noch am Leben ist“, warnt der Sozialdemokrat.
Energiekrise im Ukraine-Krieg: Ökonom prognostiziert bis zu vier Prozent Wirtschaftsminus in Deutschland
Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Felbermayr prognostiziert einen dauerhaften Preisanstieg und rechnet mit einem Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um drei bis vier Prozent. Er gibt zu bedenken, dass ein deutscher Alleingang den derzeitigen Problemen nicht gerecht werde. „Wenn Deutschland das macht und Europa nicht mitgeht, ist überhaupt nichts gerettet. Das muss ein europäischer Kraftakt werden“, warnt der Ökonom. Er verweist zudem auf einen schon seit 2017 zu beobachtenden Rückgang der deutschen Bruttowertschöpfung.
Russwurm ergänzt, dass Deutschland zudem derzeit nicht nur teuer Energie einkaufen, sondern auch mehr Geld in Verteidigung, die Transformation der Wirtschaft und den Schutz vor Naturkatastrophen stecken müsse - was Steuermittel benötige. Auch dadurch bestehe derzeit eine große Unsicherheit für Investoren.
Fazit des „Maybrit Illner“-Talks im ZDF:
Schon länger haben in einer Talk-Show Oppositions- und Regierungsvertreter nicht mehr so offen gestritten wie in dieser „Illner“-Ausgabe. Bislang galt die Faustregel Kritik häppchenweise, argumentativ klausuliert und vorsichtig vorzubringen - nach dem Motto: Seid nett zueinander! Das war dieses Mal anders. Kühnert und Spahn griffen sich offen an und erinnerten an Zeiten vor der Merkel-Ära, in denen diese Form der Diskussion häufiger Usus gewesen ist. Es ist denkbar, dass die politische Kommunikation in Zukunft wieder an Schärfe zunehmen wird. (Verena Schulemann)