„Mama Samia“ gegen die Diktatur

Tansanias Präsidentin Samia Suluhu Hassan bringt grundlegende Reformen auf den Weg. Um diese zu erhalten, fehlt aber noch ein wichtiger Schritt.
Dass Samia Suluhu Hassan kürzlich bei einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag in Moshi, am Fuß des Kilimandscharo, auftrat, ist nichts Außergewöhnliches: Sie ist schließlich eine Frau. Dass sie dabei mit „Exzellenz“ angesprochen und von einem Trupp bewaffneter Sicherheitsleute umgeben wurde, schon eher. Denn sie ist auch die erste Präsidentin Tansanias und damit aktuell einzige Regierungschefin Afrikas.
Der eigentliche Knüller ist jedoch, dass sie ausgerechnet bei einem Termin der oppositionellen Chadema-Partei auftrat: Ihr Vorgänger hätte noch alle Teilnehmerinnen der Veranstaltung verhaften und ins Gefängnis werfen lassen. Unter John Magufuli waren Kundgebungen der Opposition verboten: Der „Bulldozer“, wie er im Volksmund hieß, wälzte jegliche Kritik platt. Sie wisse, dass ihr ungewöhnlicher Auftritt unterschiedliche Gefühle auslöse, sagte die Präsidentin in ihrer Rede: „Versöhnung fällt den Menschen auf beiden Seiten nicht leicht.“
Sie werden sich daran gewöhnen müssen. Denn die Politikerin aus Sansibar will die von ihrem Vorgänger traumatisierte Heimat heilen. Ihr Regierungsprogramm umreißt sie mit den „vier R“: Reconsiliation, resilience, reforms and rebuilding. Also: Versöhnung, Widerstandsfähigkeit, Reformen und Wiederaufbau. Tatsächlich krempelte die 63-Jährige das über 60 Millionen Einwohner zählende Land schon in den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit gründlich um. Sie hob das Verbot kritischer Zeitungen auf, räumte auch der Opposition wieder das Recht ein, sich zu versammeln, und kündigte freie und faire Wahlen an. Unter ihrem Vorgänger waren solche Freiheiten verloren gegangen: John Magufuli hatte das Land in eine Diktatur verwandelt.
Dabei hatte der Bulldozer seine Amtszeit 2015 mit Paukenschlägen begonnen. Statt die Elite des Landes am Unabhängigkeitstag zum Bankett zu laden, kehrte er die Straße und tauchte unangemeldet in Ministerien auf, um dort Faulenzer zu feuern. Sein hemdsärmeliger Stil brachte ihm weit über die Grenzen des ostafrikanischen Staats hinaus Sympathien ein: In den sozialen Medien wurde er als neuer afrikanischer Führer-Typus gefeiert. Schon in seiner ersten Amtszeit stieß der Bulldozer mehr öffentliche Bauvorhaben an, als mancher seiner Amtskollegen in 20 Regierungsjahren.
Bald kam jedoch auch eine dunkle Seite des Chefs der seit der tansanischen Unabhängigkeit ununterbrochen regierenden Partei „Chama Cha Mapinduzi“ („revolutionäre Staats-Partei“) zum Vorschein. Schon während Magufulis erster Amtszeit wurde auf den Chef der Oppositionspartei Chadema ein niemals aufgeklärtes Attentat verübt: Killer streckten Tundu Lissu mit 16 Schüssen nieder, er rang wochenlang im Hospital mit dem Tod. Magufuli ließ das kalt, während seine Stellvertreterin Hassan den Politiker im Krankenhaus besuchte. Zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten in einer Partei.
Als die Corona-Pandemie 2020 auch Tansania erreichte, ließ der Präsident den letzten Schleier fallen. Er forderte sein Volk zu einem zweitägigen Gebetsmarathon auf und erklärte die Pandemie danach für mit Gottes Hilfe besiegt. Bis der 61-Jährige schließlich selbst erkrankte und wenig später starb – aller Wahrscheinlichkeit nach fiel er dem angeblich überwundenen Corona-Virus zum Opfer. Auf schrägere Weise hätte der Bulldozer nicht enden können.
Als Stellvertreterin übernahm Hassan automatisch sein Amt. Von ihr war bis dahin höchstens bekannt, dass sie – teilweise in England –Entwicklungsökonomie studiert hatte, 2010 als Abgeordnete der Regierungspartei ins Parlament einzog und aus Sansibar stammte. Letzteres war auch der Grund, warum sie Magufuli zu seiner Vize ernannte. Die Union zwischen dem Festland Tanganyika und der Insel Sansibar ist schon seit der Unabhängigkeit des Landes höchst spannungsreich. Magafuli ging davon aus, dass die Vergabe des zweithöchsten Amts im Staat an eine Sansibarin die sich notorisch vernachlässigt fühlenden Inselbewohner besänftigen würde. Dass Hassan weit mehr als eine Schaufensterpuppe ist, stellte sich erst nach Magufulis Tod heraus.
Als erstes räumte die neue Staatschefin mit dem Corona-Unsinn ihres Vorgängers auf. Sie trat in der Öffentlichkeit mit Maske auf, ließ Erkrankte wieder testen und holte Impfstoff ins Land. Außerdem erlaubte sie schwangeren Schülerinnen, in die Klassenzimmer zurückzukehren, aus denen sie von ihrem Vorgänger verbannt worden waren, und besuchte Tundu Lissu in seinem Exil in Brüssel. Vor wenigen Wochen kam der Oppositionspolitiker sogar in die Heimat zurück: „Wir hatten noch nie einen Präsidenten, der sich zu derartigen Reformen bereit erklärte“, pries Lissu „Mama Samia“, wie die stets mit einem Kopftuch bekleidete Muslima inzwischen allgemein genannt wird.
Außenpolitisch wandte sich die Reformerin dem von Magufuli verhassten Washington zu. Sie sorgte dafür, dass die unter ihrem Vorgänger stornierte US-Entwicklungshilfe wieder fließt, und leierte private Investitionen aus den USA in Höhe von einer Milliarde Dollar an. Außerdem lud sie den französischen Energiekonzern Total ein, die beträchtlichen, Erdgasvorkommen vor der tansanischen Küste im Indischen Ozean zu fördern. Angesichts der europäischen Energiekrise hätte – trotz der Klimakrise – der Zeitpunkt dafür nicht günstiger sein können.
Das wichtigste noch ausstehende Reformwerk in den zwei verbleibenden Jahren von Hassans erster Amtszeit ist die überfällige Reform der Verfassung von 1977 – damals wurde Tansania noch als Einparteienstaat von Julius Nyerere geführt. Ohne konstitutionelle Verankerung könnten die Errungenschaften der Reformerin wieder rückgängig gemacht werden: „Man mag gar nicht daran denken“, sagt eine Diplomatin in Dar-es-Salam.