Macron und die vertagte Revolution

In der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl geht es um weit mehr als um das Wohnrecht im Elysée
Etwa 49 Millionen Menschen mit französischem Pass – weltweit – waren aufgerufen, am Sonntag von 8 Uhr in der Früh bis 19 Uhr, in Großstädten auch bis 20 Uhr ihre Stimmen für die erste Runde der Präsidentschaftswahl abzugeben. Nach den jüngsten Umfragen wurden Amtsinhaber Emmanuel Macron und die Rechtspopulistin Marine Le Pen favorisiert. Meinungsforscher:innen rechneten mit einem extrem knappen Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden.
Macron und seine Frau Brigitte wollten am Vormittag in Le Touquet wählen. Le Pen wählte wie üblich im nordfranzösischen Hénin-Beaumont. Nach den letzten Umfragen lag Macron zwischen 25 und 28 Prozent der Stimmen, Le Pen zwischen 22 und 24 Prozent. An dritter Stelle lag der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon mit 16 bis 18 Prozent. Man erwartete eine geringere Wahlbeteiligung als 2017, bestenfalls 73 Prozent. Mit der ersten Hochrechnung wurde frühestens um 20 Uhr gerechnet.
Dass das Rennen so knapp zu werden versprach, lag wohl nicht zuletzt daran, dass Macron 2017 eine „Révolution“ versprochen hatte. Doch daraus wurde nicht viel – und nicht nur wegen der Pandemie. Aber immerhin vier Erfolge kann der Präsident auf seiner Seite ins Feld führen:
Die Arbeitslosigkeit ist seit 2017 von knapp zehn auf jetzt 7,4 Prozent gefallen. Die Jugendarbeitslosigkeit sank sogar um ein Viertel auf 16 Prozent. Zu verdanken hatte dies Macron teils seinen Vorgängern. Er selbst flexibilisierte den Arbeitsmarkt, indem er Einstellungen und Kündigungen trotz heftiger Proteste von Gewerkschaften und Linksparteien erleichterte. Staatliche Covid-Hilfen drückten die Arbeitslosigkeit allerdings auch künstlich.
Die Pandemie hat Frankreich relativ gut überstanden. Macron reagierte flexibel auf den Krisenverlauf – und machte so schwere Patzer vom Anfang vergessen. Weil die Regierung nicht über genügend Masken verfügte, behauptete sie zuerst wider besseres Wissen, der Gesichtsschutz nütze nichts. Dazu sprach Macron von „Krieg“, was schlecht ankam. An der politischen Front verhielt er sich aber eher geschickt, so dass „Querdenker“ weniger Echo fanden als etwa in Deutschland.
Seine Konkurrenz hat Macron weitgehend ausgeschaltet. Geschickt lockte er prominente Mitglieder und Ex-Minister der konservativen „Républicains“ und der Sozialisten in seine Mitte. Im Wahlkampf fielen die Kandidatinnen der zwei Altparteien auf unter zehn Prozent. Das ist nicht allein Macrons Werk, doch hat er es vollendet: Er hat den traditionellen Links-Rechts-Gegensatz in Frankreich gesprengt und seine Bewegung „En Marche“ als dominante Kraft dazwischen etabliert.
Frankreichs Stellung in der EU hat Macron klar gestärkt. Dies geht nicht nur auf sein Konto: Mit Londons Abgang bleibt Paris die einzige Nuklearmacht und das einzige feste Mitglied des Kontinents im UN-Sicherheitsrat. Macron rang Angela Merkel zudem erstmals eine kollektive Schuldenaufnahme ab, um den Anti-Covid-Fonds der EU zu finanzieren. Diesen europa-politischen Dammbruch will Macron fortsetzen, Berlin ist aber skeptisch.
Gleichwohl muss der Präsident auch vier Misserfolge sich ankreiden lassen:
Die Rentenreform brachte Macron nicht durch. Sein wichtigstes Versprechen von 2017 stieß auf breiten Protest. Macron hatte bei dieser äußerst brisanten Reform zu lange gezögert; am Ende konnte er froh sein, dass ihm Corona eine Ausrede bot, das komplizierte und überfrachtete Projekt ad acta zu legen. Im Wahlkampf erklärte Macron, der Einfachheit halber wolle er in einer zweiten Amtszeit nur noch das Rentenalter von 62 auf 65 erhöhen.
Der Aufstand der „Gelbwesten“ zwang Macron in die Defensive. Gegen die monatelangen Krawalle zeigte er sich als machtlos. Auch verkannte er das soziale Phänomen der verarmten Geringverdienenden. Die „gilets jaunes“ durchkreuzten Macrons Reformpläne und gaben dem Populismus von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon Auftrieb. Macron präsentierte sich als Bollwerk gegen diese „Systemgegner“ – doch damit spaltete er Frankreich nur noch mehr, statt es zu versöhnen.
Wladimir Putin konnte Macron auch in 20 Telefonaten nicht von der Invasion der Ukraine abbringen. Seit dem Massaker von Butscha mehrt sich in Frankreich die Kritik an Macrons Credo, „mit allen zu reden“. Im Wahlkampf kritisierte seine Konkurrenz, dass er sich gegenüber dem Kreml widersprüchlich verhalte: Man könne nicht mit einem Kriegstreiber wie Putin diskutieren und zugleich – was Frankreich tut – Waffen an die ukrainische Armee liefern.
Die Antiterror-Operation „Barkhane“ in Westafrika ist militärisch wie politisch gescheitert. Die Dschihadisten bleiben im wichtigen Sahelstaat Mali aktiv. Das Putschregime dort hat die 5000 Soldat:innen Frankreichs zum Verlassen des Landes aufgefordert und stattdessen russische Söldner zu Hilfe gerufen. Frankreichs „geostrategischer Hinterhof“, wie die Pariser Diplomatie die französischen Ex-Kolonien in Westafrika nennen, wird zunehmend zu einer Chaoszone. mit afp