CHP-Politiker zu Türkei-Wahl: „Deutschland hat Erdogan falsch eingeschätzt - jetzt korrigiert es seinen Fehler“
Der Istanbuler Bezirksbürgermeister war dort auf Wahlkampftour in der Türkei, wo die AKP die Mehrheit hat. Im Gespräch mit Ippen.Media erklärt er, warum die Zeit von Präsident Recep Erdogan abgelaufen ist.
Am Sonntag stimmen 64,5 Millionen wahlberechtigte Türken über ihr Parlament und den Präsidenten ab. Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl fürchten. Umfragen sehen ihn Kopf-an-Kopf mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Seit dem Rückzug von Muharrem Ince, einem vierten Kandidaten für das Amt des Präsidenten, sogar noch besser.
Şükrü Genç (CHP) ist enger Vertrauter und Wegbegleiter des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu und Bezirksbürgermeister von Sariyer, einem Stadtteil von Istanbul mit gut 350.000 Einwohnern und Partnerstadt von Aachen. Ein freundliches Lächeln, dunkle Augenringe: Der CHP-Politiker war die vergangenen zehn Tage in den AKP-Hochburgen auf Wahlkampftour. Er glaubt fest an die Abwahl der AKP und von Präsident Recep Erdogan: „Es ist eine sehr angespannte Situation in der Türkei. Die wirtschaftlichen Probleme treffen die Menschen hart. Aber das Thema Bildung ist genauso wichtig“. In den ländlichen Regionen seien die Kinder unterversorgt.
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„In der Pandemie haben die Schulkinder auf dem Land, ohne Internet und technische Ausstattung zwei Jahre Unterricht verloren. Und jetzt ist es so, dass der Transport der Kinder zu den Schulen vom Land in größere Städte nicht funktioniert. Ein Busfahrer sagte mir, dass er im Winter die Kinder gar nicht zur Schule fährt, sondern beim Iman lässt. Wir haben in der Türkei also Kinder, die seit vier Jahren in der Schule sind, aber nicht lesen und schreiben können“, sagt Genç.
Türkei-Wahl: „Wir haben mit unseren vier Partnern ein 2000-Punkte-Programm unterschrieben.“
Oppositionsführer Kilicdaroglus sozialdemokratische Partei CHP tritt mit der nationalistischen Iyi-Partei und vier kleineren Parteien unterschiedlicher Lager an. Darunter sind auch ehemalige Erdogan-Anhänger. Als neuer Präsident müsste er Reformen also als Fünfer-Bündnis umsetzten, das ist hoch kompliziert. „Wir haben mit unseren vier Partnern ein 2000-Punkte-Programm unterschrieben. Das Regierungsprogramm steht also bereits“, sagt Genç.
Die Stimmung in der Türkei ist aufgeheizt. Bei einer Wahlkampfveranstaltung flogen auf den Istanbuler Oberbürgermeister, ebenfalls CHP, Steine. Schafft keiner der Kandidaten beim ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent, geht es in die Stichwahl. Und es bleibt die Frage, wie Recep Erdogan und seine Anhänger auf eine Niederlage reagieren. Stürzt das Land dann in ein Chaos? Beobachter gehen davon aus, dass es keine Probleme geben dürfte, sollte die Opposition mit Abstand gewinnen. Knifflig könnte es werden, falls der Wahlausgang knapp ist. Dann könnte Erdogan versuchen, das Ergebnis anzufechten. Und das könnte zu Gewaltbereitschaft bei seinen Anhängern führen. Der Istanbuler Bezirksbürgermeister Genç und CHP-Politiker ist zuversichtlich: „Es gibt kleine radikale Gruppierungen, aber das ist nicht die Mehrheit. Die Bevölkerung will keine Gewalt und akzeptiert das auch nicht - das gilt auch für den Großteil der AKP-Wählerschaft.“

„Deutschland hat Erdogan falsch eingeschätzt - jetzt korrigiert es seinen Fehler“
Auch in Deutschland schaut man mit großer Spannung auf die Wahlen in der Türkei. Von den 3,4 Millionen türkischen Wahlberechtigte im Ausland sind diejenigen in Deutschland mit 1,5 Millionen Menschen die größte Gruppe. Gut 730.000 Stimmen wurden in den türkischen Wahllokalen in Deutschland abgegeben, hieß es dazu am Freitag vom türkischen Botschafter in Deutschland Ahmet Başar Şen. Damit liegt die Wahlbeteiligung bei 49 Prozent. 2018 lag sie mit 38,5 Prozent deutlich darunter.
Die Vorsitzenden der Grünen, Ricarda Lang und Omid Nouripour hatten dazu aufgerufen, statt Erdogan seinen aussichtsreichsten Herausforderer und Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu zu wählen. Auch wenn andere deutsche Politiker nicht so deutlich wurden, man ist sich bei den demokratischen Parteien in weiten Teilen einig, dass Erdogan abgelöst werden muss. Für Genç eine Einsicht, dier er begrüßt: „Wir von der CHP haben Deutschland davor gewarnt, dass Erdogan nicht der Demokrat ist. Aber er wurde unterstützt. Ich habe bei einem Treffen den damaligen SPD-Chef Martin Schulz persönlich gewarnt. Deutschland hat Erdogan falsch eingeschätzt - jetzt korrigiert es seinen Fehler.“ Bezirksbürgermeister Genç war zuletzt im Mai 2022 in Berlin, warb in Gesprächen mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für den Wechsel in der Türkei.
Sonntag wird sich zeigen, ob es dann einen neuen Präsidenten gibt, oder ob es eine Stichwahl braucht. Die Wahllokale in der Türkei öffnen um 8.00 Uhr und schließen um 17.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet. Diese werden von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlicht. Die Opposition speist die Ergebnisse in ihr eigenes System ein und will die Öffentlichkeit regelmäßig informieren. Der Sieger steht in der Regel schon in der Nacht fest. (Anne-Christine Merholz)