Alarmstufe Rot bei der Linken: „Keine Strömung darf durchmarschieren“

Der Politologe Christoph Butterwegge analysiert im FR-Interview die Lage der Linken vor dem Parteitag in Erfurt.
Herr Butterwegge, würden Sie es bedauern, wenn die Linkspartei in der Bedeutungslosigkeit verschwindet?
Ja, sehr. Denn ich halte sie für absolut erforderlich, zumal die Ampelkoalition trotz anderer Beschlüsse von SPD und Bündnis 90/Die Grünen weder einen Stopp der Rüstungsexporte in Kriegsgebiete und Abrüstungsmaßnahmen noch soziale Gerechtigkeit verwirklicht. Vielmehr wächst hierzulande die Ungleichheit, verstärkt durch die Pandemie und die inflationären Tendenzen. Es gibt lange Schlangen an den Tafeln, auch Wohnungsnot und Verelendungstendenzen bei Obdachlosen. Man müsste die Armut bekämpfen und den Reichtum begrenzen. Letzteres ist unmöglich, weil Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche nicht stärker besteuert werden sollen. Der Staat braucht aber Geld, um die Schulden der Corona-Krise aufzufangen und die Preissteigerungen bei Haushaltsenergie und Nahrungsmitteln für Einkommensschwache abzufedern. Das hierfür erforderliche Geld muss er sich dort holen, wo es im Überfluss vorhanden ist.
Das klingt eigentlich nach einer guten Ausgangsposition für eine linke Partei. Warum wählen die betroffenen Menschen dann nicht die Linke?
Die Linke verdankte ihren rasanten Aufstieg der Enttäuschung vieler Menschen über die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Im Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Eindruck erweckt, dass sie von dem, was die rot-grüne Koalition von 1998 bis 2005 angerichtet hat, etwa Hartz IV, die Riester-Rente und Kürzungen im Gesundheitsbereich, viel hinter sich lassen wollten. SPD und Grüne sind auch mit der Forderung nach Wiedererhebung der Vermögensteuer gestartet, wodurch die Linke ihr soziales Alleinstellungsmerkmal verloren hat.
Die Linken haben an SPD und Grüne verloren
Sie erklären das schlechte Wahlergebnis der Linken von 2021 also damit, dass deren Stimmen bei SPD und Grünen gelandet sind?
An beide Parteien hat die Linke verloren. Entscheidend für das schlechte Abschneiden war außerdem, dass sie total zerstritten wirkte und viele Sympathisanten nicht zur Stimmabgabe motivieren konnte. Egal, wie man zu Sahra Wagenknecht steht: Sie war Spitzenkandidatin der Linken in Nordrhein-Westfalen. Zur selben Zeit begann ein Parteiausschlussverfahren gegen die bekannteste Politikerin der Linken. Was sollten Wählerinnen und Wähler davon halten?
Welche inhaltlichen Fragen müssten geklärt werden?
Auf der Theorieebene kann man Identitäts- und Klassenpolitik voneinander unterscheiden. Zu klären ist, ob sich beide so miteinander verbinden lassen, dass Ausgrenzung unterbleibt und die Linke gestärkt wird.
Zur Person
Christoph Butterwegge (71) forscht über Ungleichheit. Der Politologe lehrte bis 2016 an der Universität zu Köln. Die Linkspartei nominierte Butterwegge als Kandidat für die Bundespräsidentenwahl 2017. Der Wissenschaftler gehört der Partei jedoch nicht an, anders als seine Frau, die Soziologin Carolin Butterwegge. Sie trat im Mai als Spitzenkandidatin der Linken in Nordrhein-Westfalen an.
In der SPD war Butterwegge bis zu seinem Ausschluss 1975. Später trat er wieder ein, kehrte der Partei aber 2005 wegen Gerhard Schröders Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen den Rücken.
Ist die politische Linke eigentlich besonders gefährdet, sich selbst zu zerfleischen?
Ja, eine Abweichung von der Parteilinie begreift sie als Verletzung ihrer Grundsätze. Andere Parteien haben ebenfalls unterschiedliche Flügel, tragen ihre Konflikte aber weniger scharf aus. Für die Linke geht es darum, ob sie eine gewerkschaftlich orientierte Arbeitnehmerpartei oder eine jugendliche, woke Großstadtpartei sein will. Das zeigt sich bei der Genderfrage, der Klimafrage und der Frage rassistischer Diskriminierung. Hier liegen ideologische Tretminen, die sich in ständigen Personalquerelen entladen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie die Linke damit umgehen kann: Entweder kämpft man so lange, bis eine Strömung klein beigibt. Das wäre die schlechtere Variante.
Andersdenkende als Bereicherung sehen
Und die bessere Variante?
Bei meiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten im Februar 2017 habe ich mich scherzhaft als „ideellen Gesamtlinken“ bezeichnet, weil ich allen Strömungen der Partei etwas abgewinnen und deshalb mit ihnen zusammenarbeiten konnte. Das fiel mir relativ leicht, weil ich kein Mitglied bin und deshalb nicht in Flügelkämpfe involviert war. Noch entscheidender ist ein anderer Punkt: Ich begreife mich als pluralen Linken und Teil einer breiten, vielfältigen politischen Richtung. Wenn man Andersdenkende eher als Bereicherung versteht, weil sie andere Sichtweisen und andere Wählergruppen repräsentieren, sucht man sie nicht aus der Partei hinauszudrängen. Leider mangelt es in der Linken an der Bereitschaft, andere Strömungen der Partei selbst dann zu akzeptieren, wenn man heftig mit ihnen streitet.
Was bedeutet das für den Erfurter Parteitag an diesem Wochenende? Wie muss sich die Linke aufstellen?
Sie muss ihren sozialen Markenkern akzentuieren, ohne andere Themen zu vernachlässigen, und die Führungsgremien plural besetzen, so schwer das dem einen oder der anderen fällt. Keine Strömung darf durchmarschieren, weil es der Linken schaden würde, die in einer tiefen Existenzkrise steckt. 4,9 Prozent bei der Bundestagswahl bedeuten Alarmstufe Rot. In dieser Situation kommt es mehr denn je auf Solidarität, Einigkeit und Kooperationsbereitschaft an. Machtkämpfe zwischen Parteiführung und Bundestagsfraktion darf es ebenso wenig geben wie persönliche Profilierungsversuche auf Kosten anderer. Wenn es die Linke nicht schafft, eine Kultur des Miteinander zu entwickeln und ein konstruktives Parteiklima herzustellen, hat sie keine Zukunft. Mich erinnert die konfrontative Stimmung an die SPD der 70er-Jahre, die mich ausgeschlossen hat.
Was haben Sie da erlebt?
Wir haben als Jusos den Kampf gegen „rechte“ Sozialdemokraten intensiver betrieben als die Auseinandersetzung mit CDU/CSU und FDP. Dies war ein Fehler. Sieht man den Gegner in der eigenen Partei oder in anderen Parteien? Darauf muss dieser Parteitag eine Antwort geben. (Interview: Pitt von Bebenburg)