„Letzte Generation“ als Partei? Protestforscherin sicher: „Dafür ist es zu spät“

Die „Letzte Generation“ will Berlin unbefristet lahmlegen. Der FDP gefällt das nicht, das Verhalten sei undemokratisch sei. Nur so können die Klima-Aktivistinnen und Aktivisten aber erfolgreich sein, sagt eine Expertin.
Köln – Gründet endlich eine Partei! Diese Forderung ist der Kern eines Gastbeitrags von FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle und Franziska Brandmann (Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen), der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist. „Als Demokraten sind wir davon überzeugt, dass in demokratischen Prozessen darüber entschieden werden sollte, welchen Weg unser Land einschlägt“, heißt es in dem Text.
Die Protestforscherin Dalilah Shemia-Goeke sagt: Kuhle und Brandmann offenbaren mit dieser Forderung Wissenslücken. Dass die „Letzte Generation“ keine Partei gegründet hat, sei kein Zufall. „Sie geht bewusst den Weg des öffentlichen Drucks, denn diese Zutat ist es, die aktuell nicht ausreichend vorhanden ist“, sagt Shemia-Goeke.
„Letzte Generation“: Eine Partei zu etablieren, würde sehr lange dauern
Dabei spielt womöglich – in der Lesart der „Letzten Generation“ – ein abschreckendes Beispiel aus der Vergangenheit eine Rolle. „Mit den Grünen gibt es ja bereits eine Partei, die vor 40 Jahren gegründet wurde, um solche Themen parlamentarisch zu vertreten“, sagt Shemia-Goeke. Aber: „Eine Partei erfolgreich zu etablieren, dauert sehr lange. Das passt nicht mit dem Hauptargument der ‚Letzten Generation‘ zusammen, wonach die Zeit in der Klimakrise extrem drängt. Für den langen Marsch durch die Institutionen ist es dann zu spät.“
Dazu komme ein weiteres Argument, was die „Letzte Generation“ selbst allerdings gar nicht so sehr betont. „Das wundert mich auch etwas“, sagt Shemia-Goeke. „Wir wissen aus der Konfliktforschung nämlich, dass ziviler Widerstand gerade dann sinnvoll ist, wenn sich zwei sehr ungleiche Gegner gegenüberstehen. Das ist hier der Fall. Auf der einen Seite mächtige Öl-, Kohle-, Gas- und Automobilkonzerne mit sehr vielen Ressourcen, auf der anderen Seite die Zivilgesellschaft. Gerade in so einem ‚David-gegen-Goliath‘-Szenario brauchen jene am kürzeren Hebel öffentlichen Druck, um dieses Ungleichgewicht zumindest ein wenig auszugleichen“, sagt die Expertin. Erst dann könne man überhaupt auf Augenhöhe sprechen. „Würde die ‚Letzte Generation‘ eine Partei gründen, wäre sie den gleichen Mechanismen ausgesetzt“, so Shemia-Goeke.
„Letzte Generation“ verschafft durch radikale Aktionen anderen Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten Gehör
Mit ihren aktuellen Aktionen, zuletzt sorgte die Ankündigung, Berlin unbefristet lahmlegen zu wollen für Schlagzeilen, zieht die „Letzte Generation“ immer wieder Unmut auf sich. Dennoch helfen ihre Aktionen, das übergeordnete Ziel, Klimaschutz, zu erreichen, sagt Shemia-Goeke. „Wir nennen das den Effekt ‚der radikalen Flanke‘. Damit ist gemeint, dass die Präsenz von Gruppen, die als radikaler wahrgenommen werden, zu einer erhöhten Gesprächsbereitschaft mit den ‚moderateren‘ (wie etwa ‚Fridays for Future‘) führt, sodass die gesamte Bewegung mehr Gehör gehört wird.“
Der Ansatz ist klar. Man will eine kritische Masse auf seine Seite ziehen – ohne den „Umweg“ über Parlamente zu nehmen. Dabei ist jene Masse kleiner, als viele womöglich denken. „Aus der Forschung zu Demokratiebewegungen wissen wir, dass in der Vergangenheit ab einer Beteiligung von rund fünf Prozent der Bevölkerung, die auf die Straßen gehen, Diktatoren zu Fall gebracht werden konnten“, so Shemia-Goeke. „Diese Zahl ist natürlich im Kontext parlamentarischer Demokratien mit Vorsicht zu genießen, aber dennoch ein interessanter Anhaltspunkt.“
Insofern muss sich die FDP eigentlich keine Sorgen machen: Umfragen zufolge lehnen viele Bürger die Protestformen der „Letzten Generation“ ab. Im November sagten vier von fünf Befragten in einer Civey-Studie, dass Aktionen wie Straßenblockaden dem Anliegen Klimaschutz eher schaden als nützen. Dennoch – und das zahlt auf das Argument der kritischen Masse ein – finden laut Umweltbundesamt knapp 70 Prozent der Deutschen Klimaschutz „sehr wichtig“.