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Leerstelle unter Denkmalschutz

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Von: Stefan Scholl

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St.Petersburg: Das wäre zu Sowjetzeiten nicht passiert.
St.Petersburg: Das wäre zu Sowjetzeiten nicht passiert. © dpa

Wladimir Lenin gilt den Russen 150 Jahre nach seiner Geburt als eine Selbstverständlichkeit, die man lieber ignoriert. Noch aber traut sich der Kreml nicht an die Ikone ran.

Wladimir war ein lautes Kind. „Ein großer Schreihals mit kampflustigen, glücklichen Haselnussaugen“, schrieb seine ältere Schwester Anna. Am 22. April vor 150 Jahren kam er in der Wolgastadt Simbirsk Wladimir Uljanow zur Welt, später nannte er sich Lenin. Laufen lernte er spät, fiel oft um und brüllte. Die Hebamme, die ihn entband, soll gesagt haben: „Er wird einmal sehr intelligent – oder aber sehr dumm werden.“

Lenin war der beste Jurastudent seines Jahrgangs an der Universität Sankt Petersburg, dann wurde er Anwalt und Berufsrevolutionär. Seine historischen Daten sind weltbekannt: 1917 kehrte er nach längerem Exil in der Schweiz in die russische Hauptstadt zurück und organisierte das, was man später Oktoberrevolution nennen sollte. Seine Bolschewiki behaupteten sich in einem grausamen Bürgerkrieg gegen schwache Demokraten und korrupte Zaristen. Lenin begründete die Sowjetunion und warb für die kommunistische Weltrevolution, bis er 1924, noch keine 54 Jahre alt, nach mehreren Schlaganfällen starb. Nachfolger Stalin betrieb dann mehr Terror nach innen denn Weltrevolution. „Lenin trug dazu bei“, schrieb sein Biograf Robert Service, „eine Welt auf den Kopf zu stellen.“

Rein optisch beherrscht das laute Kind Russland noch heute. 6000 Lenindenkmäler stehen auf Rathausplätzen, unzählige Hauptstraßen tragen seinen Namen. Und sein einbalsamierter Körper ruht weiter in Moskau.

Aber vor großen Zeremonien wie den Paraden zum 9. Mai wird das Mausoleum von Kulissen im Weiß-Blau-Rot der Nationalflagge verdeckt, unter der im Bürgerkrieg die Gegner der Roten kämpften. Und Wladimir Putin wirft dem Führer des Weltproletariats vor, 1917 „eine Atombombe“ unter Russlands tausendjährige Staatlichkeit gelegt zu haben. Dabei bleibt es dann aber auch: „Putins Regierung kann mit Lenin nichts anfangen“, sagt Boris Kolonizki, Historiker an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. Und so werden „hier und da (...) neue Denkmäler für Stalin gebaut, aber nicht für Lenin“. Eine zwölfteilige Dokumentation des Staatsfernsehens über Lenin kann man nur auf Youtube sehen …

Zur Sowjetzeit war Lenin ein Kultobjekt. Inzwischen sprechen sich etwa zwei Drittel der Russen dafür aus, seine Mumie zu beerdigen. Aber ein Drittel ist in Sorge, die Gefühle der letzten gläubigen Sowjetkommunisten zu verletzen. Lenin ist nun eher eine Leerstelle – und noch unter Denkmalschutz. „Die Leute betrachten ihn nicht als historische Figur, sondern als etwas Neutrales, Selbstverständliches, eine Art Weihnachtsbaum“, wird der Kulturwissenschaftler Dmitri Kudinow von der polnischen „Gazeta Wyborcza“ zitiert.

Lenins Jubiläum beging außer linken Splitterparteien nur noch die kremltreue kommunistische Partei KPRF. „Lenin ist nicht aktuell, weil unsere linke Opposition nicht aktuell ist“, sagt die marxistisch gesonnene Schriftstellerin Lisa Alexandrowa-Sorina. Dabei seien seine Schriften zur Krise des Kapitalismus weiter gültig.

Aber die Masse der Russen will lieber bürgerlicher Mittelstand sein statt revoltierendes Proletariat. Und Putins Medien glorifizieren Zarenreich wie Sowjetmacht, die Oktoberrevolution fällt dazwischen in ein tiefes Loch. Die jüngste russische Revolution, das Ende der Sowjetunion 1991, ist ihnen kollektives Trauma. Der Weltrevolutionär Lenin ist völlig außer Mode.

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