May hat sich im Wahlkampf ziemlich schlimm verhalten. Sie bestand ja darauf, dass sie eine größere Mehrheit benötigen würde, um ihre Pläne für den Brexit durchzubringen; zugleich beharrte sie darauf, dass diese Pläne streng geheim bleiben müssten und nicht während des Wahlkampfs diskutiert werden sollten. Außerdem wollte sie sich kaum über andere Politikbereiche äußern, wechselte aber während des Wahlkampfs dann doch politische Zielvorgaben. Sie vermied fast alle Fernsehdebatten und -Interviews. Es ging ihr ausschließlich um eine Vertrauensabstimmung.
Hatte sie sich also verkalkuliert, als sie die Neuwahlen ansetzte?
Ja, denn sie hatte kalkuliert, dass die Labour Party unter Jeremy Corbyn nicht wählbar sein würde. Stattdessen hat Corbyn einen ziemlich starken Wahlkampf gemacht. Im Vergleich dazu war ihre Verweigerung, sich Diskussionen zu stellen, ein grober Fehler. Sie hatte kalkuliert, dass sie fast alle Stimmen der rechtsextremen Ukip erhalten würde, wenn sie deren politische Tagesordnung einfach übernimmt. Sie hatte damit sogar teilweise recht. Sie wusste aber nicht, dass ein großer Teil der Ukip-Stimmen an Labour gehen würde. Nach dem Brexit hatten die EU-kritischen Wähler Ukip nicht mehr nötig. Deshalb waren die früheren Stimmen für Ukip an beide großen Parteien zurückgegangen, nicht nur an die Tories.
Corbyn holte auf, obwohl er in seiner eigenen Partei umstritten war. Warum hat er plötzlich Erfolg?
Corbyn liebt Wahlkämpfe, Massendemonstrationen, öffentliche Debatten. Das ist sein Elixier. Man muss sich hier auch daran erinnern, dass die konservativen Zeitungen ihn als ein Ungeheuer, ein Monster bezeichnet hatten. Während des Wahlkampfes konnten die Wähler ihn aber oft im Fernsehen sehen und erlebten darin einen normalen, freundlichen Menschen.
Die schottischen Nationalisten haben hingegen ebenfalls verloren. Warum?
Wahrscheinlich, weil sie auf ein neues Unabhängigkeitsreferendum bestehen. Das letzte Referendum – das die Nationalisten ja verloren hatten – war für viele Schotten eine bittere, hasserfüllte Erfahrung. Sie wollten den Nationalisten offenbar eine Botschaft senden.
Wie wird die Regierungsbildung laufen?
Die Premierministerin ist gewiss verwundet und schwach geworden. Sie hat ihre parlamentarische Mehrheit verloren. Für eine Mehrheit kann sie sich aber auf die Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland verlassen – eine Protestanten-Partei, die die größte in Nordirland ist. Zusammen haben sie eine Mehrheit, und die DUP ist eine konservative Partei, die für den Brexit steht. Es gibt aber große Probleme.
Welche?
Die DUP würde auf einem sogenannten sanften Brexit bestehen. Obwohl man das nicht klar weiß, würde Theresa May wohl einen „harten“ Brexit lieber haben. Eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung hatte gegen den Brexit gestimmt. Sie wollen nicht, dass die Grenze zwischen der Republik von Irland und Nordirland die Grenze zwischen der EU und dem Rest der Welt wird, denn das könnte die schwache Wirtschaft von Nordirland ruinieren. Diese Regierungsbildung wird in der Tat sehr schwierig werden.
Was hat das Wahlergebnis mit dem Brexit zu tun? Spielte der Brexit eine Rolle?
Das ist eine sehr verwirrende Frage. Alle beiden, die Konservative und die Labour-Partei wollen jetzt den Brexit. Oder ihn zumindest durchsetzen. Die beiden Parteien, die weiter gegen den Brexit sind – die Liberal-Demokraten und die schottischen Nationalisten – erlebten eine schlimme Wahlnacht. Es ist aber auch möglich, dass viele Wähler einen „sanften“ Brexit wünschen. Das kann vielleicht einen Teil des Erfolgs der Labour Party erklären, weil Labour mittlerweile für eben diesen „sanften“ Brexit steht. Wichtig an dieser Wahl war ohnehin eine große Beteiligung der jungen Leute. Eine große Mehrheit der Jungen sind für Europa. Nur wenige von ihnen hatten sich ja am Referendum beteiligt.
Wie sehen die Briten den Brexit heute? Würden sie noch einmal so abstimmen?
Das ist ganz unklar. Das Referendum brachte ja auch schon keine Klarheit: Hatten die Wähler für einen harten oder einen sanften Brexit gestimmt? Niemand weiß es. Weder May noch Corbyn wollten den Brexit während des Wahlkampfes diskutieren. Vielleicht akzeptieren viele, die gegen den Brexit gestimmt hatten, heute den Brexit, einfach nur, weil er als unvermeidlich gilt? Wir wissen es nicht. Das Land ist ganz verwirrt.
Welchen Einfluss haben die Terror-Attacken auf die Wahl?
Normalerweise helfen solche Ereignisse den rechten Parteien. Die konservativen Zeitungen hatten Corbyn völlig falsch als einen Freund des Terrorismus stigmatisiert. Es gab aber auch einen anderen Faktor: Theresa May war von 2010 bis 2016 Innenministerin und in dieser Rolle hatte sie die Mittel für die Polizei streng reduziert. Wir haben zu wenige Polizisten auf den Straßen, und viele Leute sind der Ansicht, dass das ein Faktor für die Terror-Attacken ist.
Interview: Michael Hesse