25 Jahre Lagerhaft für Politiker Kara-Mursa

Moskauer Gericht verhängt höchste Freiheitsstrafe gegen einen Politiker seit der Sowjetzeit
Der Angeklagte hegte wenig Hoffnung. „Ich weiß genau, mein Schuldspruch wird maximal sein“, schrieb Wladimir Kara-Mursa in einem Brief aus der U-Haft. „Das ist ein politischer Schau-Prozess, es braucht auch ein Schau-Urteil.“ Gestern hat das Moskauer Stadtgericht den Oppositionspolitiker und Journalisten dann tatsächlich zu 25 Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. Damit folgte es dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die diese Strafe wegen „Falschinformationen über die Streitkräfte“, „Mitarbeit in einer unerwünschten NGO“ und „Landesverrats“ gefordert hatte.
Es ist das drakonischste Urteil gegen einen Politiker im postsowjetischen Russland. 2020 erhielt der antifaschistische Aktivist Dmitri Ptschelinzew 18 Jahre Zuchthaus. Der Korruptionsbekämpfer Alexei Nawalny sitzt zurzeit zwei Haftstrafen von zweieinhalb und neun Jahren ab, in einem weiteren Verfahren wegen Extremismus drohen ihm aber noch weitere 13 weitere Jahre Unfreiheit. Der Moskauer Kommunalpolitiker Ilja Jaschin wurde im Dezember wegen „Fakes über die Streitkräfte“ zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
Lagerhaft für Kara-Mursa: Schon Vorfahren waren Oppositionelle
„Der Trend zu schärferen Strafen ist offensichtlich, das repressive System kann nicht anders“, sagt Sergei Dawidis, Jurist für die Menschenrechts-Organisation Memorial. „Es häufen sich Anklagen wegen Terrorismus oder Hochverrat.“ Aber Kara-Mursa falle wie Nawalny aus dem Muster. Beide würden von der Staatsführung, wohl auch von Wladimir Putin selbst als persönliche Feinde angesehen, mit ihnen rechne man persönlich ab.
In Kara-Mursas Fall richte sich die Anklage direkt gegen seine öffentliche oppositionelle Tätigkeit. „Dahinter steht Rache“, sagt Dawidis. Kara-Mursas Auftritte hätten die russische Obrigkeit jahrzehntelang erbost, vor allem sein Einsatz für die sogenannte Magnitzkij-Liste.
Kara-Mursas Moskauer Vorfahren arbeiteten über mehrere Generationen als Historiker und Journalisten, ein Urgroßonkel und ein Urgroßvater wurden unter Stalin erschossen, ein weiterer überlebte mehrere Jahre Lagerhaft.
Lagerhaft für Kara-Mursa: Er studierte in Cambridge
Er selbst studierte im britischen Cambridge Geschichte, stieg später als Gefolgsmann des liberalen Parteiführers Boris Nemzow in die Politik ein. Mit Nemzow galt er als Hauptlobbyist für das Gesetz „Über Verantwortlichkeit und Rechtsstaatlichkeit“, das die USA 2012 einführten. Anlass war der Tod von Sergei Magnitzkij in Moskauer U-Haft 2009. Der Wirtschaftsprüfer war als Steuerhinterzieher verhaftet worden, nachdem er Beamten die Unterschlagung hoher Summen vorgeworfen hatte. Auf Vorschlag Nemzows und Kara-Mursas beschloss der US-Kongress Sanktionsmechanismen für russische Amtsträger, die gegen Menschenrechte verstoßen. „Das war ein zu heftiger Schlag gegen das Gefühl der russischen Sicherheitsbeamten, völlige Straffreiheit zu genießen“, schreibt die „Nowaja Gaseta Ewropa“.
Nemzow wurde im Februar 2015 in Moskau auf offener Straße erschossen, Kara-Mursa zeigte 2015 und 2017 lebensgefährliche Vergiftungserscheinungen. Nach Angaben des britischen Rechercheportals „Bellingcat“ wurde er vorher von FSB-Geheimdienstlern beschattet, die zum Teil auch Alexei Nawalny vor seiner Vergiftung 2020 verfolgt haben sollen. Nun hat ihn das gleiche Schicksal wie Nawalny ereilt: Giftanschlag, Genesung im Ausland, Rückkehr nach Moskau, Festnahme und Prozess.
Lagerhaft für Kara-Mursa: In der U-Haft nahm er 17 Kilo ab
Auch Kara-Mursas Frau Jewgenija redet gegenüber der BBC von „Rache“. Kein Wunder: Der vorsitzende Richter Sergej Podoprigorow steht selbst auf der „Magnitzkij-Liste“, er ließ diesen 2008 verhaften. Und wie Magnitzkij droht Kara-Mursa im Gefängnis ein Leidensweg. Nach Angaben seines Anwalts hat er in einem Jahr U-Haft 17 Kilo abgenommen, verliert zusehends das Gefühl in Fingern und Zehen, die Anstaltsärzte diagnostizierten die Lähmungskrankheit Polyneuropathie. Der 41-Jährige, gibt sich trotzdem optimistisch. „Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“, sagte er vergangene Woche in seinem Schlusswort. Den Schuldspruch quittierte er gestern mit leichtem Lächeln.