Kriegswende in Äthiopien: Er kam, ließ sich sehen und siegte

Äthiopien erlebt eine Wende im Bürgerkrieg zugunsten von Abiy Ahmeds Regierungstruppen – ein Grund für die plötzlichen der Tigray-Rebellen könnte türkische Kriegstechnik sein.
Als Rebellentruppen aus Tigray der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba im November immer näher kamen, hielt es Premierminister Abiy Ahmed nicht länger in seiner Amtsstube aus: Er zog sich eine Uniform über, ließ sich an die Front chauffieren und dort ausführlich vom staatlichen Fernsehen filmen. Wie er durchs Fernglas schaut, Generälen aufmunternd auf die Schultern klopft und den Truppen Mut zuspricht – er kam, ließ sich sehen und siegte. „Wir werden den Feind schlagen, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt“, sagte der Friedensnobelpreisträger .
Nun scheint Abiy Ahmeds PR-Kalkül tatsächlich aufgegangen zu sein. Seit seiner Ankunft an der Front melden die äthiopischen Streitkräfte ENDF nach monatelangen Niederlagen plötzlich wieder Geländegewinne: Gut 200 Kilometer vor Addis Abeba wurde der Vorstoß der „Verteidigungsstreitkräfte Tigrays“ (TDF) bei Shewa Robit gestoppt. Auch der Versuch der Rebellen, die Verkehrsarterie zwischen der Hauptstadt und dem Hafen von Dschibuti zu unterbrechen, ging schief. Und die symbolträchtige Heilige Stadt Lalibela „befreiten“ die Regierungssoldaten.
Kriegswende in Äthiopien: Drohnen aus der Türkei entscheidend?
Plötzlich erlebten die Tigray-Kämpfer, was vor sechs Wochen der ENDF geschah: Ihre Truppen wurden aufgerieben, ihr Kampfgeist verließ sie, ihre Offiziere ordneten den Rückzug an.
Dass es die Gegenwart des Premierministers war, die das Kriegsglück wendete, sehen Fachleute allerdings anders. Für William Davidson, Äthiopien-Kenner der Internationalen Krisengruppe (ICG), ist es vor allem Drohnen zuzuschreiben, dass sich die Regierungstruppen einen entscheidenden Vorteil auf den Schlachtfeldern sichern konnten. Die Regierung hatte in den vergangenen Wochen aus der Türkei, China und dem Iran unbemannte Flugkörper des Typs Bayraktar TB2, Wing Loong 2 oder Mujaher-6 bezogen: Vor allem die türkischen Bayraktar hatten sich bereits in Syrien, Libyen und Berg-Karabach als kriegsentscheidend erwiesen. Sie können hoch über Gefechtsfelder kreisen, Positionen ausspähen und Raketen abfeuern: Ein militärischer Vorteil, dem die Tigray-Truppen nichts entgegenzusetzen haben. Vor allem ihr Einsatz hatte Abiy Ahmed wohl zu seinem Fronteinsatz ermutigt, bei dem er auch vom Marathonläufer und zweimaligen Olympiasieger Haile Gebrselassie begleitet worden war.
Inzwischen haben sich die Rebellen auf die Gebiete zurückgezogen, von denen sie im September ihren Vormarsch begonnen hatten. Es handele sich lediglich um „strategische Anpassungen“, meldet der Chef der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), Debretsion Gebremichael: Von einer Niederlage könne keine Rede sein. „Die Kämpfe gehen weiter, bis der Feind begraben ist.“
Äthiopien: Immer mehr Kriegsverbrechen berichtet
Mittlerweile werden auch immer mehr Menschenrechtsverbrechen der Rebellen bekannt, die den Kriegsverbrechen der Regierungstruppen in Tigray in nichts nachstehen. Human Rights Watch (HRW) ging Berichten nach, wonach TDF-Kämpfer in den amharischen Dörfern Chenna und Kobo Dutzende hingerichteten: Die HRW-Rechercheure meinen die Ermordung von mindestens 50 Menschen mit den Aussagen namentlich genannter Zeug:innen belegen zu können. Außerdem hätten die Rebellen Menschen als „human shields“ – Schutzschilde – benutzt, kritisiert die HRW-Direktorin für Krisen und Konflikte, Lama Fakih.
Kurz vor ihrem Rückzug aus der strategisch wichtigen amharischen Stadt Kombolcha sollen TDF-Kämpfer außerdem Nahrungsmittellager des Welternährungsprogramms (WFP) geplündert und „große Mengen an Hilfsgütern gestohlen“ haben, melden die Vereinten Nationen. Das WFP stellte daraufhin seine Tätigkeit ein. Derzeit sind sowohl in der Amhara- wie in der Tigray-Provinz fast zehn Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen – Hunderte von Kindern sollen bereits gestorben sein. Alle Versuche der Afrikanischen Union und der US-Regierung, Waffenstillstandsverhandlungen in Gang zu bringen, blieben bislang ergebnislos.