Die Haltung der ukrainischen Bevölkerung zum Einmarsch war gespalten. Ein Teil begrüßte ihn als Befreiung von stalinistischer Zwangsherrschaft nach Hungerwintern, Deportationen und ethnischen „Säuberungen“. Man kollaborierte mit den Besatzern, beteiligte sich an Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, an Massenerschießungen oder arbeitete als Wachpersonal in den Vernichtungslagern. Ein anderer Teil leistete Widerstand gegen die Deutschen in der Roten Armee sowie in Partisaneneinheiten, andere dürften „nur“ versucht haben zu überleben, irgendwie.
In der Ukraine wurde während des gesamten Krieges gekämpft. Nach der Niederlage bei Stalingrad versuchte die deutsche Armee hier, dem russischen Vormarsch zu widerstehen. So war das Donezbecken 1943 erneut schwer umkämpft, es war Aufmarschgebiet bei der größten Panzerschlacht in Europa, der Schlacht um Kursk. Anschließend gab es schwere Gefechte um Luhansk, Charkow, Donezk, Mariupol, mit massiven Zerstörungen.
Von den geschätzt 24 Millionen Toten der russischen Zivilbevölkerung stammten acht Millionen aus der Ukraine, mehr als eine Million Ukrainer wurden als Zwangsarbeiter deportiert. Kiew hatte 1943 noch ein Fünftel seiner Einwohnerzahl. SS-Chef Heinrich Himmler gab folgenden Befehl aus, der auch weitgehend befolgt wurde: „Dass bei der Räumung von Gebietsteilen in der Ukraine kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben; dass kein Haus stehen bleibt, kein Bergwerk vorhanden ist, das nicht für Jahre gestört ist, kein Brunnen vorhanden bleibt, der nicht vergiftet ist. Der Gegner muss wirklich ein total verbranntes und zerstörtes Land vorfinden.“
Heute zeigen uns Satellitenbilder das Ausmaß der Zerstörung und Vernichtung. Wir bekommen sie in die Wohnzimmer geliefert mit Bewertungen, Verurteilungen und dringenden Forderungen, den Krieg zu beenden, indem wir die Ukraine mit immer mehr und wirksameren Waffen unterstützen. Es gibt keinen Verweis auf die letzten kriegerischen Auseinandersetzungen in der Geschichte dieser Gegend. Ein Beispiel: Im Gebiet von Tschernihiw, nördlich von Kiew, zeigten uns jetzt Fernsehbilder die Trümmer und Zerstörungen, nachdem die russischen Truppen abgezogen waren. 1943 wurden dort, in einem Dorf namens Korjukiwka, binnen zwei Tagen 7000 Zivilistinnen und Zivilisten von ungarischen und deutschen Soldaten ermordet. Todeskommandos durchsuchten Häuser und zündeten sie an, sie trieben Menschen zusammen, verbrannten und erschossen sie. 7000 Tote, ein Massaker, gesichert bezeugt in der Geschichtsschreibung, bisher jedoch öffentlich kaum erwähnt, weit größer als die bekannten Massenmorde im tschechischen Lidice oder in Oradour-sur-Glane und Tulle in Südfrankreich.
Auch die Massaker ukrainischer Nationalisten an der polnischen Bevölkerung mit dem Ziel, sie während des Krieges zu vertreiben, sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Ich schildere das nicht, um eine Tat mit der anderen zu vergleichen oder gar gleichzusetzen oder zu begründen. Es geht mir darum, die Frage aufzuwerfen: Könnten diese Taten nicht doch miteinander in Verbindung stehen? Könnte eine Traumatisierung eine weitere nach sich ziehen? Wie kann die Geschichte, wie können die Kriege in den nachfolgenden Generationen bei uns in Russland und in der Ukraine verarbeitet werden? Was würde ich erfahren, wenn ich einen Menschen in der Ukraine, in Russland, Polen, Deutschland fragte, wie er die Gegenwart in seinem Land erlebt und welche Erinnerungen und Gefühle in ihm wach werden? Ich erhielte wohl eine Collage aus verschiedenen Bildern aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven, die mich schwindlig machen würde. Gibt es etwas Gemeinsames oder nur Unvereinbarkeit?
Was wurde in der Ukraine Gegend gelitten! Was fügten Menschen dort einander zu! Es scheint immer wieder ein Muster von Feindseligkeiten und Allianzen zu entstehen oder wiederbelebt zu werden, unter wesentlicher Beteiligung der Großmächte, das sich in wechselnden Konstellationen in diesem Land – und wohl in Modifikationen auch in den Ländern vom Baltikum bis zum Balkan –wiederholt. Ich kann mir dieses Geschehen nicht anders erklären als durch massive Traumatisierung in der individuellen und kollektiven Geschichte. Traumata definieren sich dadurch, dass sie die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten überfordern. Sie sind abgespalten zunächst am besten aufgehoben und werden oft durch aggressive Reaktionen geschützt, sobald die Gefahr besteht, dass sie berührt werden.
Diese Reaktionsmöglichkeit ist manchmal essentiell für die Selbsterhaltung. Die eigene Vernichtung kann dann nur durch die des Feindes abgewehrt werden. Durch die Lokalisierung der eigenen Ängste und Aggressionen im anderen kommt es zu nicht endenden Spannungen und Ausbrüchen. Dabei gilt für Individuen wie für Kollektive eine ähnliche Logik des Erinnerns: Man hebt die Ereignisse hervor, die die das eigene Handeln bestätigen, und ignoriert alles, was ein positives Selbstbild infrage stellen könnte. Ich denke, wir haben es hier – neben den politisch unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen – mit einer massiven transgenerationalen Weitergabe von individuellen und kollektiven Traumata zu tun, und es droht deren Instrumentalisierung für die Interessen der beteiligten Großmächte. Wir erleben die Reinszenierung der in den Erinnerungskulturen abrufbaren bedrohlichen Szenarien von Hunger als Waffe durch die Okkupation der Getreideernte, von SS-Runen an Uniformen und Panzern mit Raubtiernamend.
Was kann das für uns bedeuten? Ist es möglich, dieses System einmal von außen zu betrachten? Sich vorzustellen, aus diesem Drama auszusteigen? Was bedeutet es, dass dieses Drama von Retter, Verfolger und Opfer hier in wechselnden Rollen endlos wiederholt wird, mit eskalierenden zerstörerischen Möglichkeiten?
Mein Vater konnte mit mir nicht über seine Kriegserlebnisse reden, er hätte es wohl nicht ausgehalten und ich sicherlich auch nicht. Diese Seite blieb weitgehend leer in unserem Familienalbum. In meiner Umgebung beobachtete ich die gleiche Spaltung von abstrakter Dämonisierung und heimlicher Rechtfertigung und auch Glorifizierung: „Damals waren wir in der Hitlerdiktatur, jetzt in der Bundesrepublik Deutschland.“ Das stimmte äußerlich, aber Menschen verändern sich nicht allein durch die Staatsform, und es wurden bei diesem „kommunikativen Beschweigen“ (Aleida Assmann) auch hier Traumata an die nächste Generation weitergegeben.
Neben den öffentlichen Gedenkfeiern setzte sich – zumindest in dem Teil Deutschlands, in dem ich aufgewachsen bin – eine Kontinuität in der Haltung zu Vergangenheit und Krieg fort, auch personell bis in die Spitzen von Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Die „Unfähigkeit zu trauern“ (Margarete Mitscherlich) verhinderte einen Dialog zwischen den Sichtweisen und Generationen, alte Narrative lebten weiter, eine neue gemeinsame Erzählung wurde nicht gefunden.
Zugleich stärkte es das Gefühl, dass unter der Führungsmacht USA ein starker Partner zur Seite stand, mit dem die Möglichkeit, die Schmach der Niederlage gegen die russischen Truppen, die Teilung Deutschlands und die Gebietsverluste im Osten revidieren zu können: „Dreigeteilt? Niemals!“ Trotzdem gab es eine Entspannungspolitik, mit dem Kniefall des damaligen Kanzlers Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Er übernahm damit Verantwortung für die deutsche Geschichte und trug dazu bei, stereotype Feindbilder aufzulösen.
Erst bei diesem Besuch wurden die polnischen Grenzen von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Michail Gorbatschow tat Ähnliches, indem er strukturelle Missstände in der Sowjetunion benannte und den Mitgliedsstaaten ihre Souveränität zubilligte. Brandt wurde wegen dieser Politik und wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus als Vaterlandsverräter diffamiert, Gorbatschow drohte den Rückhalt in der russischen Bevölkerung zu verlieren, es gab Putschversuche, er verlor die Auseinandersetzung mit seinem Nachfolger. Auf beiden Seiten verstärkten sich die Stimmen, die zu den alten Feindbildern zurückkehrten. Spätestens als der damalige US-Präsident George Bush triumphierend verkündete, dass die USA nun den „Kalten Krieg“ gewonnen hätten, wurde der „Wandel durch Annäherung“ beendet.
Jetzt, bei dem Angriff Russlands auf die Ukraine, werden die Vertreter der Entspannungspolitik auf beiden Seiten zu den Schuldigen der augenblicklichen Situation erklärt, ohne dass die Gründe für das Scheitern dieser Politik wirklich untersucht würden. Ich erlebe eine Rückkehr zu den finstersten Stereotypen und Feindbildern. Dabei sollte uns die eigene Geschichte schon eines Besseren belehrt haben. Will the circle be unbroken?
Detlef Marzke ist psychologischer Psychotherapeut und hat seine Praxis in Hamburg-Harburg.