1. Startseite
  2. Politik

Krieg in der Ukraine: „Ein Rückfall ins Mittelalter“

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Ukrainische Bewohner:innen sammeln Habseligkeiten und Vorräte während sie sich darauf vorbereiten, die umkämpfte Stadt Mariupol zu verlassen.
Ukrainische Bewohner:innen sammeln Habseligkeiten und Vorräte während sie sich darauf vorbereiten, die umkämpfte Stadt Mariupol zu verlassen. © dpa

Ralf Südhoff, Experte für humanitäre Hilfe, über Leid als Strategie, Kriegsverbrechen in Mariupol und vergessene Menschen im Jemen.

Herr Südhoff, mehr als zehn Millionen Menschen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Wird das Leid von Russland in Kauf genommen oder sogar als Kriegswaffe eingesetzt?

Ich fürchte, dass wir in der Ukraine eine neue Dimension erleben könnten, indem humanitäres Leid im Krieg nicht nur in Kauf genommen wird, sondern erstmals zur zentralen Kriegsstrategie wird, um ein ganzes Land zu erobern. Wir haben früher auch erlebt, dass hin und wieder in Krisen humanitäre Hilfe behindert wurde, weil man eine Konfliktpartei schwächen wollte. Im Syrien-Konflikt ging Russland gemeinsam mit der syrischen Regierung den nächsten Schritt, indem das Belagern und Aushungern ganzer Städte als Waffe eingesetzt wurde. In der Ukraine habe ich die Befürchtung, dass dieses Vorgehen erstmals ins Zentrum einer Kriegsstrategie rückt, mit der Russland einen Regimewechsel herbeiführen will. Die bewusst herbeigeführte humanitäre Katastrophe ist kein Kollateralschaden. Es ist der Versuch, den Druck auf die Zivilbevölkerung so weit zu erhöhen, dass die Ukraine kapitulieren muss.

Als Sinnbild hierfür gilt die Stadt Mariupol, die von Russland eingekesselt wird und in der viele Menschen unter Versorgungsnotständen leiden. Was muss dort passieren?

Die gezielten Angriffe auf die Zivilbevölkerung müssen aufhören, die Angriffe auf rein zivile Infrastruktur bis hin zu Wohnhäusern. Laut den Vereinten Nationen sind mindestens ein Drittel der Wohnhäuser in Mariupol zerstört. Das ist längst kein unabsichtlicher Nebeneffekt. Wenn man Kinderkrankenhäuser oder Schulen gezielt bombardiert, dann hat man offenbar die Absicht, die Zivilbevölkerung zu treffen. Das ist ein Kriegsverbrechen und muss sofort beendet werden.

Krankenhäuser und Schulen angegriffen

Ralf Südhoff. Foto: Christoph Boeckheler
Ralf Südhoff ist Gründungsdirektor des Centre for Humanitarian Action, einer Denkfabrik humanitärer Organisationen mit Sitz in Berlin. Getragen wird es von Ärzte ohne Grenzen, Caritas, Diakonie und dem Deutschen Roten Kreuz. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler arbeitete vorher unter anderem als Journalist und für das Welternährungsprogramm der UN. © christoph boeckheler*

Ist Mariupol ein Einzelfall, oder sehen Sie dieses Vorgehen auch an anderer Stelle?

Wir befürchten, dass es weit über Mariupol hinausgeht, laut Weltgesundheitsorganisation sind allein 43 Krankenhäuser in der Ukraine angegriffen worden, ebenso Wasserwerke, Stromversorger, Heizkraftwerke, die Regierung spricht gar von Hunderten Schulen. Vieles spricht dafür, dass das zur umfassenden Strategie wird, möglicherweise sogar noch ergänzt um den punktuellen Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

Die Belagerung von Städten und das Aushungern der Bevölkerung ist eine klassische Kriegswaffe, die schon im Mittelalter eingesetzt wurde und auch in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Inwiefern ist es neu, wie Russland jetzt vorgeht?

Gerade weil es solche Kriegsverbrechen in den Weltkriegen gab, hat man ein humanitäres Recht entwickelt und vereinbart: Es gibt auch in Kriegen und Konflikten gewisse Grundregeln, nach denen man Zivilisten schützt und keine humanitären Helfer angreift. Es ist ein Rückfall ins Mittelalter, wenn diese humanitären Regeln und humanitäre Prinzipien der Menschlichkeit mehr und mehr missachtet werden, zum Teil übrigens auch von westlichen Regierungen etwa in der Flüchtlingspolitik.

Reicht die internationale Finanzierung für humanitäre Hilfe?

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass zunächst eine Milliarde Dollar gebraucht werden für die humanitäre Hilfe. Davon ist bisher ein Drittel zusammengekommen. Das klingt nicht nach viel, aber ich wage die Prognose, dass die Hilfe für die Ukraine zumindest in diesem Jahr gut finanziert sein wird. Typischerweise wird die Hilfe in Krisen, die sich mit Sicherheitsinteressen europäischer Staaten oder mit Migrationsfragen verbinden, gut finanziert. Meine Befürchtung geht dahin, dass dies massiv zulasten gehen könnte bei der Hilfe in humanitären Krisen, die derzeit noch viel schlimmer sind als das, was wir in der Ukraine erleben. In Jemen, wo für vier Milliarden Dollar in diesem Jahr Hilfe geleistet werden müsste, ist das nicht annähernd finanziert. Für Syrien gibt es derzeit null Dollar in den internationalen Appellen. Für das größte Flüchtlingscamp der Welt in Bangladesch sind ebenfalls null Dollar gegeben worden.

Deutschland will humanitäre Hilfe kürzen

Liegt das daran, dass der Krieg gegen die Ukraine alle Aufmerksamkeit auf sich zieht?

Es spricht vieles dafür, dass es eine Verschiebung des Fokus auf die Ukraine gibt. Wir machen uns auch auf deutscher Seite große Sorgen: Die Bundeswehr soll aus vielleicht guten Gründen besser ausgestattet werden, wofür sofort 100 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Wenn dann zugleich im jetzt vorliegenden Haushaltsentwurf die humanitäre Hilfe und allein die Entwicklungshilfe trotz Ukraine, trotz dramatischen Pandemiefolgen im Globalen Süden um 1,6 Milliarden Euro gekürzt werden, scheint jede Balance verloren zu gehen.

Wie hoch ist der Bedarf bei Konflikten jenseits der Ukraine?

Die Lage ist dramatisch. Die Bedarfe in humanitären Krisen haben sich seit dem Jahr 2000 etwa verzwanzigfacht. Schon vor der Ukraine-Krise, schon vor der Corona-Pandemie wurde nur etwa die Hälfte des erforderlichen Geldes bereitgestellt. Das liegt daran, dass immer weniger Staaten bereit sind, sich zu engagieren. Deutschland war dabei zum Glück bisher eine rühmliche Ausnahme.

Nahrungsmittelkrise im Jemen

Der Krieg in der Ukraine hat noch weitere dramatische Auswirkungen in der ganzen Welt, etwa die Weizenversorgung. Welche Folgen hat das für die Notwendigkeit humanitärer Hilfe?

Der Hilfsbedarf selbst für Länder, die sich eigentlich noch ganz gut versorgen konnten, wird immens sein. Die Weizenpreise haben sich schon um rund 50 Prozent erhöht dadurch, dass fast ein Drittel des Weizens weltweit in der Ukraine und in Russland produziert werden. Jemen beispielsweise, dessen Einwohner schon jetzt die schlimmste humanitäre Krise der Welt erleiden, bezieht 80 Prozent seiner Weizenlieferungen aus der Ukraine und Russland. Das droht jetzt auszufallen.

Interview: Pitt von Bebenburg

Auch interessant

Kommentare