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Zerfall Jugoslawiens: Wie sich die Perspektiven von Rechts und Links verändert haben

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Von: Norbert Mappes-Niediek

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Bürgerkrieg in Jugoslawien
Nach der Kapitulation im November 1991 in Vukovar. © dpa

Wer hat recht, wer ist schuld? Eine kurze Geistesgeschichte der Debatte über den Zerfall Jugoslawiens und den Bosnienkrieg.

Vor dem Krieg hatte Jugoslawien die bundesdeutsche Öffentlichkeit wenig beschäftigt. So kam der Kriegsausbruch im Sommer 1991 für die meisten in Deutschland überraschend. Die ersten Panzer in Slowenien wurden noch als Randerscheinung des Regimewechsels gedeutet. Erst als wenig später in Kroatien gekämpft wurde, schienen die vertrauten Rechts-links-Kategorien eine Zeit lang wieder anwendbar. In der FAZ und in Springers „Welt“ setzten sich zwei weit rechts stehende, obsessive Antikommunisten für die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ein. Es wurde die erste Jugoslawien-Debatte.

Krieg auf dem Balkan - zunächst vertraute Rechts-links-Kategorien

Die Rechte argumentierte kulturell: Mit Kroaten und Serben stießen „zwei einander fremde Kulturen und Zivilisationen“ aufeinander, befand FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller, „zwei auseinanderklaffende Auffassungen von Rechtlichkeit und Gerechtigkeit“. Hier der demokratische, katholische Westen, dort der despotische, byzantinische Osten: Begründet hatte das Denkmuster der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der schon 1983 schrieb, das eigentlich westliche Mitteleuropa sei vom Osten „gekidnappt“.

Durch den Kriegsausbruch in Jugoslawien sah sich Kundera bestätigt. „Was zum Teufel hat Slowenien mit dem Balkan zu tun?“, fragte er in „Le Monde“. Der jugoslawische Staat, so Kundera, sei „nur ein vorübergehender Zustand in einem Prozess, der nun seinen natürlichen Verlauf nimmt und seiner Vollendung entgegengeht“.

Krieg auf dem Balkan - ideologische Fronten verschoben sich

Die deutsche Linke hielt sich zurück. Die SPD, damals in der Opposition, fürchtete, den Zug der Zeit zu verpassen, wie es ihr schon in der DDR und der Sowjetunion widerfahren war, und schwenkte bald auf Anerkennungskurs. Nur wer von den Ost-West-Gegensätzen der Kalte-Kriegs-Zeit noch nicht Abschied nehmen wollte, trat offen gegen die Anerkennung auf.

Im Bosnienkrieg, der 1992 begann, verschoben sich die ideologischen Fronten. Die deutsche Rechte, die noch im Vorjahr den Ton angegeben hatte, hielt sich zurück. Jetzt trugen zwei Strömungen der Linken ihre Jugoslawien-Debatte aus. Auf der einen Seite standen die „neuen“ Linken, die liberalen bis libertären Nachfolger der „Spontis“ der Siebzigerjahre, verstärkt um die „Menschenrechtler“ aus der Friedensbewegung. Auf der anderen Seite standen die „alten“, eher traditionellen, staats-, partei- und gewerkschaftsaffinen Linken, auch die friedensbewegten unter ihnen.

Serbische und kroatische „Ethno-Nationalisten“ gegen ein „multikulturelles“ Bosnien? 

Die neue Linke bezog ihr Muster vor allem aus Frankreich. Dort konstruierte gerade der Front National unter Jean-Marie Le Pen einen Gegensatz zwischen Nationalismus und „Globalismus“ und stellte die Offenheit des Landes für Migration infrage. Was auf dem Balkan geschah, schien den Konflikt zu spiegeln: Serbische und kroatische „Ethno-Nationalisten“ zerstörten das multikulturelle Bosnien. Ganz wie in Frankreich stritten auf dem Balkan, so schien es, die moderne, offene Stadt und das enge, geschlossene Land mit seinem Stammesdenken.

Die linksliberale Elite um den Publizisten Bernard-Henri Lévy und den „neue Philosophen“ André Glucksmann lenkten die Aufmerksamkeit auf das belagerte Sarajevo, wo – nach den Worten des früheren Belgrader Bürgermeisters Bogdan Bogdanovic – ein „Urbizid“, ein Städtemord, stattfand. Unterstützung kam aus der Geisteselite der ganzen Welt, vom Spanier Juan Goytisolo bis zur Amerikanerin Susan Sontag, von „Le Monde“ und „Libération“ bis zur deutschen „taz“.

Krieg auf dem Balkan: „Separatismus“ der Slowenen, Kroaten und Bosnier

Die alte Linke in Frankreich dagegen verstand sich als Verteidigerin der Versailler Friedensordnung und lehnte in der Tradition des Landes den „Separatismus“ der Slowenen, Kroaten und Bosnier ab. In Milosevic sah sie – gegen zunehmende Evidenz – einen Sozialisten und einen Anwalt Jugoslawiens. Der rechte „Figaro“ leistete gelegentlich Schützenhilfe, der Publizist Jacques Merlino zweifelte Kriegsverbrechen an.

Ideologisch waren die Traditionalisten in der Defensive – politisch aber an der Macht.

Dies- und jenseits des Rheins identifizierten Meinungsmacher die kriegsbeteiligten Nationen mit politisch-ideologischen Positionen. Differenzierungen waren wenig gefragt, Dissidenten wurden nur wahrgenommen, wenn man sie für die eine oder andere Seite instrumentalisieren konnte. Eine Generation, die im „Systemstreit“ groß geworden war, projizierte ihre Ideen ohne Scheu auf nationale Kriegsparteien.

Krieg auf dem Balkan: Schicksal Sarajevos und die Rolle Belgrads

In Deutschland verlief der Streit gedämpft. Der SPD-Mann Freimut Duve, der Grüne Daniel Cohn-Bendit, der Politologe Claus Leggewie und der Schriftsteller Peter Schneider gehörten zu den wenigen, die sich über das Schicksal Sarajevos und die Rolle Belgrads empörten. Die politischen Redaktionen beobachteten das Geschehen in Bosnien meist vorsichtig-skeptisch. Hans Magnus Enzensberger plädierte für Nichteinmischung. In der „Zeit“ empfahl die Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, man solle die „Völker“ dort, wenn sie ihren Hass unbedingt ausleben wollten, „eben lassen“. Die führenden Schriftsteller, Günter Grass, Christa Wolf, Martin Walser, schwiegen, ebenso die außenpolitische Autorität der SPD, Egon Bahr. Einflussreiche Sozialdemokraten, Peter Glotz oder der Brandt-Vertraute und frühere Belgrad-Botschafter Horst Grabert, ließen vorsichtige Sympathie für die Serben erkennen.

Ging es um die Aufnahme von Flüchtlingen oder um humanitäre Hilfe, zeigte sich in Deutschland dagegen viel Empathie, deutlich mehr als in Frankreich. Aber Solidarität mit einer Kriegspartei äußerten nur wenige – teils aus echter Ratlosigkeit, teils aus Unsicherheit über die Rolle des gerade wiedervereinigten Deutschland in der Welt.

Peter Handke forderte „Gerechtigkeit für Serbien“

Unter dem Eindruck von Verbrechen und Schreckensmeldungen jedoch verschob sich die Sympathie immer mehr zu den Bosniaken als den Hauptopfern. „Proserbisch“ traten nur einige linke Außenseiter noch auf. Sie hatten schwache Argumente.

Erst Peter Handke schuf nach dem Ende des Bosnienkriegs und dem monströsen Massaker von Srebrenica mit seinem Zeitungsaufsatz „Gerechtigkeit für Serbien“ aus Journalistenverachtung, traditionellem Antiamerikanismus, einigen vagen antifaschistischen Reminiszenzen und viel romantischer Kulturkritik ein Amalgam, das auch für moderne Rechte anschlussfähig war.

Schuld und Recht in der Jugoslawienfrage

Als 1998 der Kosovo-Krieg begann, hatte sich die Rechts-links-Achse gedreht. Im rot-grünen Deutschland war Diversität nun geschätzt; „ethnische Säuberungen“, wie sie besonders die serbische Kriegspartei in Bosnien betrieb, ließen sich nicht mehr kühl als späte, aber „natürliche“ Nationalstaatsbildung deuten. Dass Milosevic nicht für die Erhaltung des Vielvölkerstaats gestritten hatte, war für den letzten kommunistischen Nachzügler klar. Dass auch auf albanischer Seite nicht der Vielvölkerstaat das Ideal war, stellte sich für die westlichen Projektoren nachträglich heraus.

Neue Rechte, in Frankreich wie in Deutschland, setzten sich mit Russland und Serbien und versprengten Antiimperialisten für nationale Souveränität und gegen den „humanitären Interventionismus“ der Clinton-Ära ein. Kosovo-Albaner wurden zu Prototypen unerwünschter Migranten stilisiert. Das anfangs als links konnotierte Belgrad war nun rechts, ohne dass sich dort groß etwas bewegt hätte.

In Deutschland wird um Schuld und Recht in der Jugoslawienfrage nun, da die Region keine neuen Anlässe mehr bietet, umso hingebungsvoller debattiert.

Der Fußball hat sich als eine der öffentlichsten Bühnen für das Gedenken an das Massaker von Srebrenica vor 25 Jahren herausgebildet – aber auch für Provokationen.

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