Es geht nicht nur ums Kopftuch: Der Alptraum der Mullahs ist wahr geworden

Die Proteste im Iran erreichen eine neue Dimension. Nicht allein die Frauen demonstrieren, sondern alle Gruppen quer durch die Gesellschaft. Ein Essay von Natalie Amiri.
Teheran – Der Alptraum der Mullahs ist wahr geworden. Frauen verbrennen in ganz Iran ihr Kopftuch, unter frenetischem Beifall von Frauen und Männern. Das Kopftuch ist das Symbol für die jahrelange Unterdrückung der Frau im Iran. Aber es geht nicht mehr nur um das Kopftuch. Die iranische Gesellschaft ist zu großen Teilen enttäuscht von der Islamischen Republik Iran. Frustriert. Wütend. Diejenigen, die vor 43 Jahren auf der Straße waren, um den Schah zu stürzen, für einen freieren Iran, entschuldigen sich heute bei ihren Kindern für das Erbe, das sie hinterlassen: die Islamische Republik. Ein repressives Regime. Laut Umfragen sehen sich nur 30 Prozent der Iranerinnen und Iraner als Muslime.
43 Jahre haben sie gelitten, jetzt reicht es ihnen. Die Wut über den Tod von Mahsa Amini hat Frauen und Männer in Dutzenden Städten in ganz Iran auf die Straße getrieben. Mahsa, ein 22-jähriges kurdisches Mädchen, das in Teheran zu Gast war, wird Mitte September von der Sittenpolizei festgenommen, ihr Kopftuch sitzt nicht islamisch genug. Wenige Stunden später ist sie tot. Die Behörden behaupten, sie hätten mit ihrem Tod nichts zu tun. Sie hätte einen Herzinfarkt erlitten. Keiner glaubt ihnen. Mahsa Amini soll von der Sittenpolizei mit dem Kopf mehrmals gegen die Fensterscheiben des Autos geschlagen worden sein, in das sie gezerrt wurde.
„Gashte Ershad“: Der iranische Name für die Sittenpolizei
„Gashte Ershad“ – so lautet der iranische Name für die gefürchtete Sittenpolizei. Wenn man warnend „Gashte Ershad“ zugezischt bekommt, auf der Straße, dann lässt das jeden erschaudern, der in den letzten vier Jahrzehnten mit der iranischen Religionspolizei zu tun hatte – und das sind viele.
Die Religionspolizei achtet darauf, dass Frauen im Iran islamisch genug gekleidet sind. Konkret bedeutet das, dass Arme, Beine und die Haare genügend bedeckt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird man angeschrien, beschimpft, gedemütigt, verhaftet, in Minibusse gezerrt und zum Verhör gebracht. Die Kleidervorschriften werden also, wenn nötig, auch mit Gewalt durchgesetzt. Es gibt unzählige Videos in den sozialen Medien, die Iranerinnen und Iraner in den letzten Jahren hochgeladen haben, damit die Welt sieht, was ihnen tagtäglich angetan wird.
Iran schikaniert jedes Jahr Millionen von Frauen
Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen werden in der Islamischen Republik jedes Jahr Millionen von Frauen angehalten und schikaniert, weil sie den Hijab nicht korrekt tragen. Zahlreiche iranische Frauen verbüßen zweistellige Gefängnisstrafen, weil sie sich weigern, den Schleier zu tragen. Wenn ihnen im Auto ihr Kopftuch runtergefallen ist, wird ihr Auto wochenlang konfisziert. Der Staat zeigt permanent seine Willkür, signalisiert so seine unbedingte Macht.
Die Proteste jetzt haben eine neue Dimension angenommen. Während 1999 Studierende demonstrierten, 2009 die Mittelschicht und 2019 diejenigen, von denen man dachte, dass sie dem System loyal gegenüberstehen, die weniger gebildeten, einfachen Arbeiter:innen, sind dieses Mal alle auf der Straße. Ein Querschnitt der Bevölkerung.
Regelmäßig größere Proteste gibt es seit fünf Jahren
Seit etwa fünf Jahren erlebt Iran regelmäßig größere Proteste. Allein in der ersten Jahreshälfte 2022 wurden mehr als 2000 Proteste gezählt. Aus unterschiedlichen Gründen kamen die Menschen auf die Straße: Wasserknappheit, massive Lebensmittelpreissteigerungen, nicht ausgezahlte Gehälter, Korruption und Vetternwirtschaft.
Doch jedes Mal, wenn die Wut droht, außer Kontrolle zu geraten wie zum Beispiel 2009, hat das Regime seine Waffen. Die Sicherheitskräfte scheuen nicht vor tödlicher Gewalt zurück. So war es auch 2019. Man schoss einfach auf die Menschen, die auf die Straße kamen, um erst gegen Benzinpreiserhöhungen, dann gegen das Regime zu demonstrierten. Bis zu 1500 Iraner:innen sollen damals gestorben sein. Die Menschen wissen: Protest kann in der Islamischen Republik Tod bedeuten. Iraner und Iranerinnen, die seit Jahren auf Veränderungen drängen, sehen sich einer hochgerüsteten, zum allem entschlossenen Staatsmacht gegenüber. Für die Herrscher und ihre Schergen zählt ein Menschenleben nichts. Dafür wurde die Revolutionsgarde aufgebaut mit ihrer freiwilligen Einheit, den Basijmilizen. Sie kämpfen für das Bestehen der Islamischen Republik.
Bisher hat das Regime jedes Mal mit aller Härte reagiert. Denn es geht auch um sein Überleben. Dieses Mal ist es anders. Die Islamische Republik reagiert zwar mit allen Mitteln, doch die Wut der Menschen ist zu groß.

Iran ist ein vielfältiges, inspirierendes Land
Iran ist nicht nur, wie sich das weit verbreitete Klischee in den Köpfen verankert hat, das Land der schwarz verhüllten Frauen, der Mullahs und der Kamele. Wer es bereist, lernt einen wunderschönen, vielfältigen und inspirierenden Iran kennen. Das gilt für die beeindruckende Landschaft wie für die überaus gastfreundlichen Menschen. Iran könnte eines der wohlhabendsten Länder der Welt sein, mit florierendem Tourismus, Start-ups und Freiheit.
Doch dagegen hat der Machtapparat der Islamischen Republik etwas. Gerade die seit einem Jahr an die Macht gekommene Regierung rund um Ebrahim Raissi, ein Richter der ultrakonservativen Justiz, bekannt für Tausende von Todesurteilen, hat die Drehschrauben wieder fester angezogen. Seit Monaten finden Verhaftungen statt, Menschen, die sich kritisch äußerten, wurden von zu Hause abgeholt. Die Prominenten unter ihnen, wie die international gefeierten Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof, bekommen zumindest Aufmerksamkeit, andere versinken in der Anonymität einer Gefängniszelle.
Pop-Protest
„Die Traube unseres Zorns dürstet nach Regen. Eine neue Welt, das ist ein Anfang, das Fenster zum Traum ist offen (...) Am Ende bricht die Kette, die weltweite Unterdrückung, mit unseren Händen.“
Diesen Liedtext (samt Video) hat Natalie Amiri in den sozialen Netzwerken gepostet. Er ist einem Song entnommen, den die iranischen Schwestern Behin und Samin Bolouri zur Melodie des italienischen Partisanenklassikers „Bella ciao“ aus dem Zweiten Weltkrieg geschrieben haben. „Bella ciao“ geht zurück auf ein Protestlied vom Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem die Reispflückerinnen in Norditalien ihre entwürdigenden Arbeitsbedingungen beklagten.
Die beiden Schwestern aus Teheran treten seit mehr als fünf Jahren als professionelles Pop-Duo in ihrer Heimat auf. Behin, 28, studierte Kostümdesignerin, und die 20 Jahre alte Samin haben bisher vor allem iranischen Pop aus den 60er und 70er Jahren gecovert. Diese letzten rund 20 Jahre vor der Revolution 1979 werden auch heute noch als „das goldene Zeitalter des iranischen Pop“ in der Bevölkerung gefeiert. Die Bolouris traten mit ihren Coversongs erstmals 2015 in Erscheinung auf dem „Teheran Music Nights Festival“. rut
Neben den zahlreichen Verhaftungen gehört zu den Repressalien, dass Behörden den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware zur Identifizierung von Frauen planen, die auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn kein Kopftuch oder ein verrutschtes tragen. Sie sollen bestraft werden. Das Strafmaß wird ihnen dann per Post mitgeteilt. Die Behörden wissen, wo die „Täterin“ wohnt. Das Signal des Regimes an die Bevölkerung: Man müsse nicht glauben, dass eine Lappalie vergessen würde. Damit zeigt die Regierung: Wir wissen, wer du bist, wir finden dich, und du wirst die Konsequenzen tragen.
Frauen werden in der Islamischen Republik Iran seit 43 Jahren systematisch unterdrückt. Seit 1979 ist das Heiratsalter für Mädchen auf 13 Jahre herabgesetzt. Männer können gemäß der Scharia – anders als vor der Revolution – wieder bis zu vier Frauen heiraten und unzählige Ehen auf Zeit schließen. Sie dürfen ihre Ehefrauen willkürlich verstoßen, ob die Frau will oder nicht. Auch beim Sorgerecht benachteiligt das islamische Recht die Frauen: Töchter dürfen nur bis zu ihrem siebten, Söhne bis zum zweiten Lebensjahr bei der Mutter bleiben. Eine Scheidung ist ohne das Einverständnis des Ehemannes nicht möglich.
Ob eine Frau arbeiten gehen darf, hängt laut Scharia – dem islamischem Gesetz, das seit 1979 in der Islamischen Republik über allem steht – von der Zustimmung des Ehemanns oder Vaters ab. Für Auslandsreisen müssen Frauen das Einverständnis ihres Ehemannes oder Vaters vorlegen – schon dann, wenn sie einen Pass für die Ausreise beantragen wollen. Frauen dürfen nicht ins Fußballstadion, dürfen nicht singen, tanzen schon gar nicht.
Bereits kurz nach der Revolution sind hunderttausend Frauen auf die Straße gegangen, als sie merkten, dass die Revolution nicht iranisch geprägt, sondern sich immer mehr in eine islamische Richtung bewegt, mit dem Ergebnis, dass sie sich ab sofort verhüllen mussten. Den Kampf um die Moral gibt es seit der Revolution von 1979, als islamistische Basijmilizen - Schläger des Systems – „ya rusari ya tusari“ – „bedeckt euch oder leidet“ riefen.
Maximale Form des zivilen Ungehorsams im Iran
Dass Frauen ihre Kopftücher jetzt einfach nicht mehr anziehen, sich der Sittenpolizei auf der Straße lautstark widersetzen, ihre Haare aus Protest abschneiden und ihre Kopftücher verbrennen, bedeutet die maximale Form des zivilen Ungehorsams – der größte Widerstand gegen die jahrelange Unterdrückung, den es je gab. Dafür riskieren sie alles. Allein für das Nichttragen des Kopftuchs kann es Gefängnisstrafen geben.
Im Iran geht man nicht protestieren und rollt dann sein Plakat wieder zusammen und geht nach Hause. Wenn man im Iran auf die Straße geht, dann kann es sein, dass man verhaftet wird - ziemlich sicher sogar, dass man gefoltert wird oder einfach verschwindet. Der Slogan der Frauen auf den Straßen lautet, neben „Tod der Diktatur“ und vielen anderen: „Frau, Leben, Freiheit“.
Und damit diese Slogans weder gehört werden noch die Wut der Bürger gesehen, geht das Regime nicht nur mit brutaler Waffengewalt gegen die Demonstrantinnen vor, sie nimmt ihnen auch ihre Waffe – das Internet, die einzige Waffe, die die Zivilbevölkerung hat. Durch Verbreiten von Videos, die die brutale Niederschlagung der Proteste dokumentieren, könnten sie eine weltweite Aufmerksamkeit erreichen. Internationale Journalist:innen sind im Iran kaum noch vorhanden, und wenn, dann wird ihnen verboten; die Proteste zu drehen. Das Regime der Islamischen Republik drosselt also das Internet.
Während der letzten großen Proteste 2009 hatte es diese Fähigkeit noch nicht. Doch jetzt ist man dazu in der Lage: Die iranische Telekombehörde kann binnen kürzester Zeit den Internetverkehr fast nach Belieben drosseln oder sperren. Dann wird es nicht nur schwarz und keiner kann mehr Bilder über die brutale Niederschlagung veröffentlichen. Die Zivilbevölkerung kann sich dann auch nicht mehr über die Sozialen Medien organisieren.
Die Behörden haben nur wenige Tage nach Beginn der Proteste die Kommunikationskanäle abgeschaltet: Instagram und Whatsapp sind gesperrt, Twitter, Telegram und Facebook waren es sowieso schon. Hilfe und Lösung für die Demonstrantinnen und Demonstranten auf Irans Straßen soll bei Elon Musk zu finden sein, in Starlink. Starlink ist ein satellitengestütztes System, mit dem auch an entlegenen, durch Kabelverbindungen nicht erschlossenen Orten Internetzugang ermöglicht werden soll. Doch dafür fehlen die Bodenstationen, die Hardware. Und das Regime der Islamischen Republik wird einer Lieferung sicherlich nicht zustimmen.
„Wir werden nur gewinnen, wenn wir uns bewaffnen“
Eine Teheranerin sagte in einem Interview am Telefon: Wir werden nur gewinnen, wenn wir uns bewaffnen, sonst werden wir auch dieses Mal nur wieder Prügel einstecken. Die Proteste im Iran kommen nicht wirklich im Westen an, damit geht das Kalkül der Islamischen Republik auf: Internet drosseln, soziale Medien blockieren, kaum Bilder, internationale Nachrichtensender verlieren das Interesse. Und wieder sitzt das Regime am längeren Hebel. Und könnte gewinnen, gegen die eigene Bevölkerung.
Die Frauen und auch Männer auf den Straßen in Teheran, Shiraz, Karaj und vielen anderen Städten riskieren gerade ihr Leben. Sie sind auf sich allein gestellt gegen ein brutales Regime. Die Menschen kämpfen für Freiheit und Selbstbestimmung, die Werte des Westens. Wer, wenn nicht der Westen, muss jetzt der Bevölkerung im Iran zeigen, dass sie gesehen wird? Und dass er solidarisch ist? Wenn feministische Außenpolitik jetzt nicht handelt, wann dann? Und wenn nun nicht die Frauen in der Politik ein Signal der Unterstützung senden, wer dann? Die iranische Bevölkerung wünscht sich das. Doch darauf zu hoffen, fällt ihr schwer. Zu oft wurde sie bei vergangenen Protesten allein gelassen.
Falls sie es eines Tages schafft, dann können die Demonstrantinnen von heute ihren Enkelinnen erzählen: Das Kopftuch stand als Symbol für die Unterdrückung der Frau in der Islamischen Republik Iran. Ihre Enkelinnen werden dann wissen, ob die Proteste heute der Beginn vom Ende waren. „Es ging nämlich nie nur um das Kopftuch“, werden die Enkelinnen hören. (Natalie Amiri)