Das kommunistische Dorf

Ganz Spanien leidet unter der Krise. Ganz Spanien? Nein! Die Gemeinde Marinaleda in Andalusien ist die große Ausnahme. Das Geheimnis sei Sparsamkeit.
Die Häuser strahlen weiß unter einem wolkenlosen Himmel, den Alleebäumen entsprießt das erste Grün, der Geruch von Olivenöl weht durch die Straßen. Auf den ersten Blick ist Marinaleda ein andalusisches Dorf wie jedes andere. Bis nach ein paar hundert Metern die Graffiti auftauchen: „Gegen das Kapital: sozialer Krieg“, steht da an einer Mauer rund um eine handgemalte Weltkarte. Gleich daneben die Parole: „Mach’ das Fernsehen aus, schalte den Geist ein!“ Und über einer idyllischen Dorfszene: „Unterwegs zur Utopie – Marinaleda“. Es mutet an wie politische Propaganda in Lateinamerika.
Kita kostet zwölf Euro im Monat
„Mit der Zeit gewöhnst du dich daran“, sagt Mariela Muñoz. Sie ist vor neun Jahren mit ihrem Mann aus der Gegend von Barcelona fast tausend Kilometer in den Süden nach Marinaleda gezogen. Die 40-Jährige hat es nicht bereut. Um zu erklären, wie sich ihr Leben radikal zum Besseren gewandelt hat, erzählt sie von ihrem Sohn, den sie vor sechs Jahren in Marinaleda zur Welt gebracht hat. „Ich wollte nie Mutter werden“, sagt sie. „Wenn du in der Stadt lebst, musst du den ganzen Tag arbeiten und jemand anderen bezahlen, damit er sich um deine Kinder kümmert. Hier ist alles ganz anders. Hier genießen die Kinder ihr Leben. Hier gibt es einen öffentlichen Kindergarten, der zwölf Euro im Monat kostet.“ Muñoz lacht. „Zwölf Euro im Monat – was willst du mehr?“
Marinaleda wird seit fast 33 Jahren – seit den ersten demokratischen Gemeinderatswahlen nach dem Tod Francos – kommunistisch regiert. Die Sportanlage mit Tennishalle, Fußballplatz und Freibad ist nach dem kubanischen Revolutionshelden Che Guevara benannt, über dem Rathaus weht die Fahne der marokkanisch besetzten Westsahara. Das sind äußere Zeichen des Kampfes, den sich das 2?750?Einwohner zählende Dorf vorgenommen hat: der Welt zu zeigen, dass es auch anders geht. Dass man eine Politik machen kann, die auf Gemeinwohl setzt statt auf private Geschäftsinteressen. Nicht alle im Dorf sind mit dieser Politik einverstanden, doch bisher ist das „Kollektiv der Einheit der Arbeiter“, wie sich die Kommunisten hier nennen, noch jedes Mal mit großer Mehrheit wiedergewählt worden.
„Wir streben nicht nur eine bessere Welt an, sondern wir versuchen auch, sie in Gang zu bringen“, sagt Bürgermeister Juan Manuel Sánchez Gordillo. „Wir sind eine kleine Insel, ein Sandkörnchen inmitten einer kapitalistischen Wüste.“ Der 63-Jährige ist die Seele des Projekts Marinaleda. Seine Gegner sagen, er sei der Diktator des Dorfes. Doch die Kritik kümmert den Kommunisten mit seinem Karl-Marx-Bart und den lustig flackernden Augen nicht. Auf den Dorfversammlungen könne jeder sagen, was er wolle; er wäre froh, wenn er mit seinen Ansichten immer durchkäme.
Falls es ein Herzstück seiner Politik gibt, dann ist es die Asamblea, die regelmäßige Versammlung, zu der alle Dorfbewohner per Megafon eingeladen werden. Was dort beschlossen wird, das setzt der Gemeinderat, in der Gordillos Partei neun von elf Sitzen einnimmt, um. Ein Beispiel direkter Demokratie.
Ein Dorf voller Tagelöhner
Marinaleda lebt wie die meisten andalusischen Dörfer von der Landwirtschaft. Gewöhnlich arbeiten die Menschen als Tagelöhner auf fremdem Land. Andalusien ist vom Großgrundbesitz geprägt: 50?Prozent der Agrarfläche seien in der Hand von zwei Prozent der Grundbesitzer, erklärt Gordillo. „Hier haben wir die nutzloseste Bourgeoisie ganz Europas: die Grundbesitzbourgeoisie.
Sie ist Schuld daran, dass sich Andalusien nicht entwickelt hat.“ Daran, dass die Region wirtschaftlich gegenüber dem übrigen Land zurückgeblieben ist, hat sich auch in den vergangenen drei Jahrzehnten nichts geändert, in denen Andalusien von der sozialdemokratischen PSOE regiert wurde. Bei den spanischen Regionalwahlen am Sonntag werden die Andalusier die Partei dafür wohl abstrafen und zum ersten Mal mehrheitlich die konservative Volkspartei (PP) wählen.
Die Bewohner Marinaledas indes nahmen in den 80er-Jahren den Kampf um das Land auf. Sie besetzten das 1200-Hektar-Gut des Herzogs von El Infantado, einem Mann aus altem Adelsgeschlecht, nahe des Dorfes. Der Kampf war erfolgreich. 1991 kaufte die andalusische Regionalregierung das Gut und stellte es der Gemeinde zur Verfügung. Seither wird es genossenschaftlich bewirtschaftet.
Die Menschen in Marinaleda sind Tagelöhner geblieben. Sie bekommen 47 Euro für sechs Arbeitsstunden. Doch der Gewinn ihrer Arbeit fließt nicht mehr dem Herzog zu, der im fernen Madrid lebt, sondern er wird von der Genossenschaft reinvestiert. Sie baut Artischocken, Bohnen, Piquillo-Paprika und Oliven an und betreibt eine eigene Konservenfabrik. Diesen Februar hat der Frost die Artischocken-Ernte vernichtet, deshalb gibt es im Moment, bis zur Bohnenernte im April, wenig Arbeit.
Wie überall sonst in Andalusien müssen auch die Landarbeiter in Marinaleda ihren Lohn mit staatlicher Unterstützung aufbessern. Doch die offizielle Arbeitslosigkeit ist deutlich niedriger als im Rest der Region, wo sie bei 31 Prozent liegt. „In Marinaleda hat praktisch alle Welt Arbeit“, brüstet sich Bürgermeister Gordillo. Offiziell sind im Dorf aber doch immerhin 104 Menschen arbeitslos gemeldet.
Sparsamkeit ist das Geheimnis
Die Agrargenossenschaft sorgt dafür, dass die allermeisten einen Job haben, während sich die Gemeinde um weitere Grundbedürfnisse kümmert. Sie bietet nicht nur billige Kinderbetreuung und Sportmöglichkeiten, sondern hat auch ein öffentliches Bauprogramm aufgelegt, das in Spanien ohnegleichen ist. In den vergangenen Jahren sind gegenüber dem Rathaus 350?einfache, aber ansehnliche Wohnungen entstanden. Die Gemeinde hat Grundstücke und Materialien gestellt, die späteren Bewohner haben die Häuser selbst gebaut. Niemand ächzt, wie sonst überall in Spanien, unter Hypotheken. 15 Euro im Monat müssen die Familien aufbringen, um die Baumaterialien abzuzahlen. Nur eines können sie nicht: sich als Hausbesitzer fühlen. Der Verkauf der Wohnungen ist ausgeschlossen.
So viel die Gemeinde für ihre Bewohner ausgibt – pro Kopf ist sie dennoch nur etwa halb so hoch verschuldet wie andere spanische Kommunen. Das Geheimnis sei Sparsamkeit, sagt Vize-Bürgermeisterin Esperanza Saavedra. Das klingt beinahe konservativ. Bürgermeister Gordillo formuliert es so: „Erfahrungen wie die von Marinaleda sind ein sehr kleines Modell für das, was man machen könnte.“ Überall sonst auf der Welt.