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„Koloss auf schwachen Füßen“

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Von: Claus-Jürgen Göpfert

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Gerd Koenen.
Gerd Koenen. © imago/VIADATA

Der Historiker Gerd Koenen spricht im FR-Interview über die Zukunft Russlands. Perspektiven für Königsberg und die „absurde Militärkolonie“ Transnistrien kann er sich auch vorstellen.

Herr Koenen, in Ihrem neuen Buch ist Ihre Liebe zu Russland und seinen Menschen spürbar, aber auch eine große Trauer.

Um „Liebe“ geht es nicht (ich liebe überhaupt kein Land oder Volk speziell, nicht mal das eigene) – um Trauer aber schon: Wie ein so großes Land mit so interessanten Menschen mit diesem sinnlos entfesselten Krieg jetzt abermals von seinen eigenen Machthabern in eine Katastrophe geführt, sozial verwüstet und kulturell verödet wird.

Wo liegen die biografischen Wurzeln für Ihre intensive Anteilnahme?

Da kommt vieles zusammen: Wir als Kinderhorde, die in den Ruinen des Ruhrgebiets „Russlandkrieg“ gespielt haben. Der eine Onkel, der vor Leningrad begraben lag, und der andere, der in Stalingrad in Gefangenschaft geriet. Überhaupt das Bewusstsein, dass dort auf den „killing fields“ des Ostens ungeheure Dinge geschehen waren. Natürlich der Kalte Krieg, in dem alles jenseits der Mauer irgendwie „Russland“ war. Dann die Gegenbesetzung einer mythisierten „russischen Revolution“ 1968, auch wenn es nicht die starre Sowjetunion, sondern eher die mobile Guerilla des Che, die Vietcong oder die roten Garden in China waren, die die Fantasie eine Weile beschäftigten. Am Ausgang des roten Jahrzehnts 1980 war es dann die polnische Arbeiter- und Bürgerbewegung „Solidarnosc“, die mich fesselte, auch weil sie, wie mir früh klar war, die starre Ost-West-Teilung aufsprengen würde, was 1989 dann ja auch eintrat. Darüber stellte sich dann der Kontakt und die Zusammenarbeit mit dem ausgebürgerten „russischen“ (eigentlich ukrainisch-jüdischen) Dissidenten und Literaturwissenschaftler Lew Kopelew her, der in Ostpreußen 1945 als Propagandaoffizier der Roten Armee verhaftet und ins Lager gewandert war.

Über ihn und Polen sind Sie dann wieder auf Russland gestoßen?

Kopelew hat immer in einer sehr emphatischen, durchaus irritierenden, aber auch faszinierenden Weise von den beiden großen Kulturnationen Russland und Deutschland gesprochen. Das hat mich auf die Spur des kulturell oft fruchtbaren, politisch aber meist problematischen deutschen „Russland-Komplexes“ geführt: Wie ein Thomas Mann etwa von der „heiligen russischen Literatur“ sprach oder wie ein Dostojewski im Wilhelminischen wie im Weimarer Deutschland als Kronzeuge gelesen wurde, der die weite „russische Seele“ und das tiefe „deutsche Wesen“ in eine gemeinsame Frontstellung gegen die flache, seelenlos-materialistische Welt des Westens stellte. Das hatte in Wirklichkeit natürlich mehr mit den Deutschen selbst und ihren überstiegenen Selbstbildern und Weltansprüchen zu tun. Aber diese fanden tatsächlich viele Resonanzen im Alten wie im „Neuen Russland“ der Bolschewiki, und umgekehrt auch.

Gibt es eine russische Gesellschaft eigentlich noch?

Sie ist immer wieder systematisch heruntergekämpft worden, so oft sie sich dynamisch gebildet und zu Wort gemeldet hatte, schon im Zarenreich, im Bürgerkrieg unter Lenin, in der Ära Stalins durch Kollektivierung und Terror, in der späteren Sowjetzeit durch soziale und geistige Gleichschaltung – und jetzt erneut unter der Ägide Wladimir Putins. Aber die zivilen Kräfte haben sich immer wieder nach oben gekämpft, so die weitgehend isolierten Dissidenten der späten Sowjetära, die dann plötzlich in der Reformära Gorbatschows die Leere des politischen und kulturellen Raumes gefüllt haben, wie Gras durch den Beton bricht, sobald er Risse zeigt. Die Risse kamen unter anderem von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl oder dem verlorenen Afghanistankrieg, aber auch von Gorbatschows „Perestrojka“(Umbau)-Plänen.

Wird auch das Regime Putins also demnächst fallen?

Als Historiker scheue ich Prognosen. Aber Diagnosen kann man stellen. Putin wird sich und sein Regime mit diesem Krieg so oder so in eine Niederlage steuern, selbst wenn er noch irgendeinen Pyrrhus-Sieg erränge. Er herrscht inzwischen länger als fast alle russischen Herrscher vor ihm. Und autokratische Regime verfallen mit den Autokraten. Die „Russische Föderation“, die ja ein ganz neuer Staat ist wie die Ukraine auch, steht als Koloss auf schwachen Füßen. Die angeblich unbesiegbare Armee ist militärisch entzaubert worden. Und während alle Oppositionen und Kritiken unterdrückt werden, herrscht in den Moskauer Medien und Kanälen des Regimes eine Kakophonie halb irrer Stimmen, die sich über die Welt draußen etwas zusammenreimen, während sie sich gegenseitig des Verrats bezichtigen.

Viele in Deutschland kritisieren, dass immer neue Waffenlieferungen das Leid und das Sterben in der Ukraine nur verlängerten.

Zur Person

Gerd Koenen (68) ist einer der profiliertesten Kenner Russlands hierzulande. 2005 erschien sein Buch „Der Russland-Komplex“, das der Historiker jetzt um ein aktuelles Kapitel zum Ukraine-Krieg ergänzt hat.

In Büchern wie „Das Rote Jahrzehnt“ und „Vesper, Ennslin, Baader“setzte er sich mit Linksradikalismus und Terrorismus in Deutschland auseinander. 2007 wurde Koenen mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

2017 legte er „Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ vor. Am 16. März erscheint sein Buch „Im Widerschein des Krieges – Nachdenken über Russland“. jg imago images

Es ist genau umgekehrt. Wir haben der mit einem Vernichtungskrieg überzogenen Ukraine viel zu spät und zaghaft Beistand geleistet, obwohl das völkerrechtlich nicht nur erlaubt, sondern geboten war. Dieser von Putin völlig unprovoziert vom Zaum gebrochene Krieg kann nur beendet werden, wenn seine wahnwitzigen Ambitionen frustriert werden. Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität mit den Opfern der Aggression. Sondern der großartige Widerstand, den die Ukraine leistet, ist in unserem ureigenen Interesse. Gelingt es Putin, neben Weißrussland auch die Ukraine zu okkupieren oder in einen blutigen Morast zu verwandeln, ist unsere eigene Lage eine völlig andere.

2001 sprach Putin auf Deutsch im Deutschen Bundestag und lud Europa zur Zusammenarbeit ein. War das bloß ein Täuschungsmanöver?

Ich weiß nicht, was Putin 2001 dachte. Aber ich weiß eines: Russland hatte in den 1990er wie in den 2000er Jahren eine große Chance, sich zu reformieren, mit seinen Nachbarn ein neues Einvernehmen herzustellen und Teil einer eurasisch-europäischen Wirtschafts- und Staatengemeinschaft zu werden. Aber stattdessen hat es unter der Ägide Putins versucht, als Exporteur devisenträchtiger Energie und Rohstoffe Abhängigkeiten zu schaffen und wieder ein großer Macht- und Militärstaat zu werden. Das ist für Russland selbst eine fatale Sackgasse: ökonomisch, ökologisch, sozial und kulturell.

Warum hat es so wenig Widerstand gegen diese Entwicklung gegeben?

Die russische Gesellschaft hat von jeher Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren. Es war und ist sehr leicht für alte und neue Macht- und Besitzeliten, sich der Zentralmacht und der Bodenschätze zu bemächtigen, das Land auszusaugen, die Menschen zu betäuben und für Weltmachtambitionen einzusetzen, für die es gar keine sozialökonomische Basis gibt.

Sie schreiben in ihrem Buch, bei Verhandlungen über die Zukunft Russlands müsse auch die Zukunft der Exklave Kaliningrad und des russisch besetzten Transnistrien auf den Tisch.

Ja, die absurde Militärkolonie „Transnistrien“ gehört natürlich zu Moldawien. Und die Bewohner des mit dem Namen des Stalinisten Kalinin verunzierten Königsberg träumten in den 90er Jahren schon einmal davon, eine Freihandelszone namens Jantar, Bernsteinstadt, zu werden, statt als eine bloße Militär- und Flottenbasis zu dienen. Etwas Ähnliches könnte man sich für Sewastopol auf der Krim ebenfalls vorstellen. Alle produktiven Auswege liegen ja offen auf der Hand.

Haben Sie noch Kontakte nach Russland?

Fast alle, die ich dort kannte, sind inzwischen hier oder sonst wo im Exil. Und auch das bedeutet eine Vergeudung humaner Potenziale. Wir werden bereichert, Russland verarmt.

Träumen Sie von einer Rückkehr nach Russland, das Sie 35 Jahre lang immer wieder besucht haben?

Mein Epilog heißt: „Abschied von Moskau“. Ich fürchte einen Abbruch normaler Beziehungen auf längere Zeit, oder vielleicht sogar den Einbruch einer „nordkoreanischen Finsternis“.

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