„Kollateralschäden“ der Corona-Politik

Abgeordnete aller Fraktionen sehen im Rückblick auf den Umgang mit der Corona-Pandemie gravierende Fehler, die besonders zu Beginn der Krise gemacht worden sind.
Drei Jahre nach dem Beginn der Corona-Pandemie gehen viele Politikerinnen und Politiker hart mit den Regeln ins Gericht, mit denen die Ausbreitung des Virus gestoppt werden sollte. Das ergab eine Umfrage der Frankfurter Rundschau unter den Fachleuten der Bundestagsfraktionen. Insbesondere die Schließung von Schulen und Kitas wird inzwischen von den meisten als falsch angesehen.
Manche Abgeordneten erinnern aber auch daran, was aus ihrer Sicht sinnvoll war. „Maskenpflicht und Abstandsregelungen haben dazu beigetragen, uns sicher durch die Pandemie zu bringen“, sagt etwa die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Heike Baehrens.
Selbst Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der als Verfechter strenger Corona-Regeln gilt, hatte jüngst die Schul- und Kitaschließungen als Fehler bezeichnet und mit Blick auf Ausgangsbeschränkungen in Bayern von einigen „Exzessen“ gesprochen. „Wenn ausgerechnet Karl Lauterbach die strengen Corona-Maßnahmen relativiert, ist das mehr als scheinheilig“, sagte der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge der FR.
Drei Jahre lang habe der heutige Minister keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, um „in fanatischer Weise“ scharfe Grundrechtseingriffe zu fordern. „Die Maßnahmen, die Lauterbach nun als Fehler bezeichnet, hat er selbst vehement gefordert und auch als Minister durchgesetzt – immer wieder auch gegen Widerstände und trotz seriöser Kritik aus der Wissenschaft“, schimpft Christdemokrat Sorge. Daher komme seine Einsicht spät und wirke wenig glaubwürdig.
„Die wichtigste Lehre ist, dass wir Krankheitsausbrüchen mit Augenmaß begegnen müssen“, findet der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion. Flächendeckende Lockdowns, Schul- und Kitaschließungen hätten „verheerende Kollateralschäden“ verursacht, stellt er fest. „Das darf sich nicht wiederholen.“ Der CDU-Politiker hält „eine Enquetekommission oder ein vergleichbares Gremium“ für sinnvoll, um „die tiefen Narben in unserer Gesellschaft“ aufzuarbeiten.
Auch in der Ampelkoalition gibt es Abgeordnete, die eine solche Aufarbeitung verlangen – darunter die komplette FDP-Fraktion. Bemerkenswert ist dabei, dass der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann bei weitem nicht so harsch mit der Corona-Politik ins Gericht geht wie sein Unionskollege Sorge. „Rückblickend Maßnahmen zu beurteilen, ist sowohl wissenschaftlich als auch politisch schwierig“, sagte Ullmann der FR. Er denke zwar, dass Ausgangssperren sowie Schul- und Kitaschließungen „nicht notwendig“ gewesen seien. „Aber darüber hinaus brauchen wir die wissenschaftliche Evaluation, um Maßnahmen beurteilen zu können“, stellt der FDP-Politiker fest.
Die AfD sieht sich an ihrer scharfen Kritik an den Corona-Maßnahmen bestätigt. „Die gesamte Corona-Zeit war eine Zeit der Exzesse“, urteilt ihr gesundheitspolitischer Sprecher Marin Sichert. Die Masken- und Abstandspflicht habe „das Immunsystem der Gesellschaft“ geschwächt, die „Diskriminierung der Ungeimpften“ habe die Gesellschaft tief gespalten, befindet er. Am schlimmsten habe es jedoch Kinder und Jugendliche getroffen, unter denen psychische Erkrankungen stark angestiegen seien. Es sei nun höchste Zeit für einen Untersuchungsausschuss, verlangt die AfD.
Die FDP will Aufklärung mit einer Enquetekommission erreichen, zielt aber in eine andere Richtung als die AfD. „Die Enquetekommission soll sich ganz bewusst auf zukünftige Gesundheitskrisen durch Epidemien und Pandemien richten und nicht rückwärtsgewandt die Politik der Corona-Pandemie beurteilen“, betont ihr Experte Ullmann.
Manche Abgeordneten erinnern daran, wie schwierig es für die Verantwortlichen gewesen sei, in der Corona-Zeit mit dem jeweiligen Kenntnisstand die richtigen Entscheidungen zu treffen. So sagt die SPD-Politikerin Heike Baehrens, dass Schul- und Kitaschließungen „vielleicht überzogen“ gewesen seien. „Wir dürfen aber nicht vergessen, dass in dieser Krisensituation trotz unvollständigen Kenntnisstands, um nicht zu sagen unter größten Unwägbarkeiten, schnell politisch gehandelt werden musste“, fügt sie hinzu. Schließlich sei es darum gegangen, „Menschenleben zu schützen und die Pandemie einzudämmen“. Im internationalen Vergleich ist Deutschland nach ihrer Einschätzung „verhältnismäßig gut durch die Pandemie“ gekommen.
Für die Grünen-Abgeordnete Kordula Schulz-Asche steht fest: „Vorbereitet waren wir nicht“. Daher sei erklärbar, warum anfangs viel Unsicherheit geherrscht habe und auch falsche Entscheidungen getroffen worden seien. Es sei aber nicht alles verkehrt gewesen. „Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass Abstandsregeln und Masken erheblich die Ausbreitung des Virus verhindern können“, konstatiert Schulz-Asche. „Um aus den Fehlern zu lernen, sind sicher auch die Lehren aus den Maskendeals und der Unseriosität einiger Testzentren zu ziehen“, sagte Schulz-Asche. Als Hauptproblem sieht die Grüne „die jahrzehntelange Vernachlässigung des öffentlichen Gesundheitsdienstes“. Der Infektionsschutz brauche starke öffentliche Institutionen, betont sie. „Der Markt regelt eben nicht alles.“
Auch die Linke zieht Schlüsse aus den Pandemie-Erfahrungen – vor allem die, „dass man besser früh niedrigschwellige Maßnahmen als spät gravierende eingeführt hätte“. So seien die Einschränkungen für Ungeimpfte „eine Notlösung“ gewesen, „weil die Impfkampagne zum Beispiel Menschen in sozialen Brennpunkten schlecht erreicht hat“, sagt die Linken-Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler. Ihr sei es auch „immer noch unverständlich“, warum Schulen und Kita geschlossen worden seien, statt sie flächendeckend mit Luftfiltern auszustatten. Widersprüche sieht Vogler auch im Umgang mit Masken. Die Evidenz spreche für einen Erfolg der Maskenpflicht in bestimmten Situationen, urteilt sie: „Aber es war ein schwerer Fehler, nicht zugleich über den Nutzen und den richtigen Gebrauch von Masken allgemeinverständlicher aufzuklären.“