Könnte Kriegsdienstverweigerung den Ukraine-Krieg beenden?

Rudi Friedrich und Karin Fleischmann von „Connection“ sagen: Sich dem Kriegsdienst zu entziehen, ist ein Zeichen, dass es noch andere Optionen gibt.
Seit Jahrzehnten unterstützt der Verein „Connection“ mit Sitz in Offenbach Kriegsdienstverweigerer vieler Nationen. Geschäftsführer Rudi Friedrich und die langjährige Ehrenamtliche Karin Fleischmann pflegen Kontakt zu Partnerorganisationen und Betroffenen.
Herr Friedrich, Frau Fleischmann, könnte Kriegsdienstverweigerung helfen, den Ukraine-Krieg zu beenden oder wenigstens zu verkürzen?
Rudi Friedrich: Es gibt diesen Spruch: „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Das wäre wünschenswert, aber das ist nicht die Realität. Aber es gibt in jedem Krieg Menschen, die sich dem Kriegsdienst entziehen, sich verweigern oder desertieren. Das ist ein Zeichen auch an alle anderen, dass es außer dem Kriegseinsatz noch andere Optionen gibt.
Karin Fleischmann: Kriegsdienstverweigerung betrifft nicht nur die jungen Männer, sie betrifft auch ihre Familien. Das führt dazu, dass in der Zivilgesellschaft diskutiert wird. Je höher die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ist, desto geringer wird die Akzeptanz des Krieges.
Wie viele Menschen verweigern sich dem Ukraine-Krieg?
Friedrich: Wir kennen die Zahl von 300 000 Menschen, die im Zuge des Krieges von Russland ins Ausland gegangen sind. Das umfasst alle, Frauen wie Männer, Wehrpflichtige wie Nicht-Wehrpflichtige. Das zeigt uns aber, dass es viele Tausend gibt, die sich den Rekrutierungen entzogen haben. Aus Belarus wurde uns die Zahl von 20 000 genannt, die aus der Befürchtung, dass Belarus in den Krieg einsteigt, das Land verlassen haben. Was die Ukraine betrifft: Allein Moldawien hat mitgeteilt, dass in den ersten anderthalb Monaten des Krieges 3000 Männer aus der Ukraine dort Schutz gesucht haben.
Russland greift an, die Ukraine verteidigt sich. Wäre es nicht widersinnig, wenn Deutschland einerseits Militärhilfe an die Ukraine liefert, andererseits ukrainische Deserteure vor Verfolgung schützt?
Fleischmann: Wir sagen: Alle, die den Kriegsdienst verweigern, egal von welcher Seite, sollen Schutz bekommen. Es gibt ein Recht auf Leben, ein Recht auf Selbstbestimmung, ein Recht darauf, nicht mit der Waffe kämpfen zu müssen. Das gilt für alle.
Friedrich: Natürlich hat der Widerstand der Ukraine eine stärkere Legitimation. Er ist auch international legitimiert, im Gegensatz zum Angriffskrieg Russlands. Aber für uns ist zentral: Jeder muss die Chance haben, die Entscheidung zu treffen: Ich will da nicht mitmachen.
Fleischmann: Natürlich darf sich die Ukraine verteidigen. Aber die Frage lautet: Wollen alle dabei mitmachen? Viele wollen ihre Familien nehmen und gehen, können es aber nicht tun, weil dieses Land abgeriegelt ist. Sie müssen das Recht haben zu sagen: Ich will mich selbst und meine Familie schützen und das Land verlassen.
Zur Serie
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen. Alle Artikel finden sich auch auf unserer Homepage unter www.fr.de/friedensfragen.
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Der Beschluss des Deutschen Bundestags richtet sich ausdrücklich nur an russische Soldaten. Er fordert sie auf, die Waffen niederzulegen, und sichert ihnen Schutz im deutschen und europäischen Asylverfahren zu. Ist das aus Ihrer Sicht befriedigend?
Friedrich: Es ist ein Angebot an russische Deserteure, aber nicht an diejenigen, die sich vor der Rekrutierung, also rechtzeitig dem Krieg entzogen haben. Wenn jemand diesen Schutz haben will, würde erwartet, dass er erst zum Militär geht und dann desertiert. Das ist widersinnig. Der Schutz muss auch für die Wehrdienstentzieher gelten, die rechtzeitig gegangen sind.
Sie sprechen aus einer antimilitaristischen Grundhaltung. Wie kommt man zum Frieden ohne Militär?
Fleischmann: Ich frage zurück: Wie kommt man zum Frieden mit Militär?
Das beantworte ich Ihnen gerne. Der Zweite Weltkrieg ist nicht durch friedliche Mittel oder Verhandlungen, sondern durch die geballte militärische Kraft der Alliierten beendet worden. Er ist ein zentrales Beispiel dafür, wie – leider – militärische Mittel notwendig sein können, um Frieden zu schaffen.
Fleischmann: Ich setze davor an. Hinter jedem Krieg stehen verschiedene Interessen, seien es Großmachtfantasien, sei es, dass es um Ressourcen geht oder um militärische Interessen. Das sind nicht die Interessen der einfachen Leute. Hitler wurde von verschiedenen Ländern, Industrie und Wirtschaft unterstützt, so dass der Krieg so überhaupt möglich geworden ist. Aber richtig ist: Letztlich kam es zu einer Situation, wo nur noch Militär geholfen hat.
Friedrich: Im aktuellen Krieg erleben wir, dass es vorher zwar Gespräche gegeben hat, aber nicht wirklich den Versuch zu verhandeln. Russland hat bestimmte Vorstellungen formuliert. Von den USA und den europäischen Ländern gab es keine ernsthaften Angebote dazu. Das rechtfertigt natürlich keinen Angriffskrieg, den verurteilen wir. Jetzt erleben wir eine Eskalation, wo immer mehr Waffen aufgefahren werden und der Nationalismus auf allen Seiten gestärkt wird. Niemand weiß, wohin diese Eskalation führt. Es gibt kein Ausstiegsszenario, und das ist eine sehr bedrohliche Situation.
Wie könnte denn ein Ausstiegsszenario aussehen?
Friedrich: Am Ende wird man Verhandlungen führen müssen. Auf Regierungsebene gibt es keine andere Option. Auf der Ebene der Gesellschaft ist es wichtig, Stimmen zu stärken, die auf Zusammenarbeit und Versöhnung setzen.
Interview: Pitt von Bebenburg