Die Koalitionäre im Krisenmodus

Der anhaltende Zoff zwischen CDU und CSU über den Kurs in der Flüchtlingspolitik nervt zunehmend die SPD. Für die Sozialdemokraten ist die Flüchtlingspolitik selbst ein schwieriges Thema.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) benutzte am Dienstagmittag mal wieder ein Wort, das sie bei der CSU nicht so gern hören. Es war das Wort „Zeit“. Sie rechne beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag nicht mit einer Klärung aller Streitfragen in der Flüchtlingspolitik. Eine Lösung für das gesamte europäische Asylpaket werde es bis Ende der Woche nicht geben, sagte die Kanzlerin nach einem Treffen mit dem neuen spanischen Premier Pedro Sánchez in Berlin.
Dafür werde „noch ein wenig Zeit notwendig sein“. Merkel präsentierte sogar eine neue Idee: Die EU solle mit einzelnen afrikanischen Staaten Verträge nach Vorbild des Türkei-Abkommens abschließen. Länder wie Marokko oder Algerien bräuchten nämlich auch Hilfe, wenn sie Migranten zurücknehmen oder beim Transit stoppen sollten: „Das ist immer ein Geben und Nehmen, so wie wir es ja auch beim EU-Türkei-Abkommen gezeigt haben“, sagte Merkel.
Bei den Verhandlungen könnten sich die Staats- und Regierungschefs der EU die „Verantwortlichkeit“ für die verschiedenen Länder aufteilen. Jeder könne „im Namen aller europäischen Kollegen“ mit ein oder zwei Ländern sprechen. Sánchez unterstützte Merkels Vorschlag.
Das wird der Kanzlerin innenpolitisch aller Voraussicht nach nicht helfen. Denn der CSU geht es nicht um das europäische Gesamtpaket. Ihr geht es darum, dass ab nächster Woche Asylbewerber direkt an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden, wenn sie zuvor bereits in einem anderen europäischen Land registriert worden sind. Entweder, indem Innenminister Horst Seehofer, zugleich CSU-Chef, der Bundespolizei die Anweisung dazu gibt. Oder indem Merkel eine andere Lösung – etwa über Abkommen mit anderen EU-Ländern – findet, die „wirkungsadäquat“ sei. Die also mehr oder weniger zum selben Ergebnis führt.
Merkel will unbedingt eine Lösung im Einklang mit den europäischen Partnern. Dieser an sich überschaubare Konflikt hat die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU nah an den Abgrund geführt – und damit auch die gesamte große Koalition. Die CSU will am Sonntag bewerten, ob Merkels Ergebnisse reichen. Oder ob Horst Seehofer gegen den erklärten Willen der Kanzlerin handeln soll. Die stünde dann vor der Frage, ob sie Seehofer als Minister entlassen soll. Das wäre Sprengstoff für das bisherige Parteiensystem in Deutschland. Signale eines möglichen Nachgebens gab es von der CSU jedenfalls am Dienstag nicht.
Genug Gesprächsstoff also für den Koalitionsausschuss, der für den Dienstagabend im Bundeskanzleramt angesetzt war. Neben den Parteivorsitzenden Merkel, Seehofer und Andrea Nahles (SPD) waren noch Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), Unions-Fraktionschef Volker Kauder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt geladen. Auch Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sollte dabei sein.
Die SPD hatte den Koalitionsausschuss einberufen, um nach innen wie nach außen deutlich zu machen: Worauf immer sich CDU und CSU in letzter Minute auch verständigen könnten, die Sozialdemokraten wollen auch noch mitreden. Über den konkreten Streitpunkt zwischen den Unionsparteien hinaus gab es mit Sicherheit auch generellen Gesprächsbedarf über Seehofers Entwurf zum sogenannten „Masterplan“ Migration, den dieser zuvor weder der SPD noch der Öffentlichkeit vorgestellt hatte.
Die Sozialdemokraten übten in den vergangenen Tagen harte Kritik an der CSU: Sie nehme das ganze Land für ihre eigenen Zwecke bei der bayerischen Landtagswahl in Geiselhaft. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will im Oktober die absolute Mehrheit in München verteidigen. SPD-Chefin Andrea Nahles hat zudem gesagt, dass sie ihre Partei nicht in einer Vermittlerrolle sieht. „Die Probleme zwischen CDU und CSU können wir nicht lösen“, lautete ihre Ansage. „Die müssen sie selber lösen. Das erwarte ich aber auch.“
Nahles wollte nach eigenen Angaben beim Koalitionsausschuss auch grundsätzliche Fragen der Zusammenarbeit innerhalb der großen Koalition ansprechen. „So wie das in den letzten Wochen gegangen ist, werden wir das nicht akzeptieren.“
Für die Sozialdemokraten ist die Flüchtlingspolitik selbst ein schwieriges Thema. Ihre Wählerschaft ist in der Frage gespalten: Die SPD braucht sowohl den Studienrat, der Merkels Flüchtlingspolitik bedingungslos unterstützt, als auch jene, die fürchten, die Zuwanderung verschärfe Konflikte um Jobs und bezahlbaren Wohnraum. Mit dem Interviewsatz „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen“ hatte Nahles zuletzt versucht, den Skeptikern entgegenzukommen.
In der Fraktion waren ihr viele dankbar. Vom linken Parteiflügel hagelte es aber Kritik. Die SPD-Führung will nicht, dass es ihre Partei zerreißt.
Akuter war aber die Frage, ob CDU und CSU sich in Kürze womöglich schon trennen. Unions-Fraktionschef Volker Kauder sagte vor einer Fraktionssitzung am Dienstagnachmittag: „Natürlich setzen wir alle darauf, dass wir zu einer Lösung kommen. CDU und CSU haben in 70 Jahren gemeinsamer Arbeit gemeinsam für dieses Land Unglaubliches erreicht. Das wollen wir auch in Zukunft so beibehalten.“
Ähnlich, in Teilen wortgleich hatte sich Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer bereits am Morgen geäußert. Und überhaupt: Ihm habe niemand gesagt, dass nicht an der Fraktionsgemeinschaft festgehalten werden solle, fügte Grosse-Brömer hinzu. Die CSU würde das nicht bestreiten. „CDU und CSU sind eine Schicksalsgemeinschaft“, sagte Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Morgen. Nur ließ die CSU eben auch nicht erkennen, dass sie sich in der Sache bewegen wolle.
Die CSU hatte zudem natürlich auch kein Interesse daran, sich beim Koalitionsausschuss einfach nur auf eine Art Anklagebank zu setzen. Sie hatte – im Stil einer Gegenoffensive – die Beschlüsse des deutsch-französischen Gipfeltreffens auf Schloss Meseberg zur Eurozonenreform auf die Tagesordnung gesetzt. In der CSU herrscht die Sorge, Merkel komme EU-Partnern zwecks einer Lösung in der Flüchtlingspolitik in anderen Fragen zu weit entgegen. Einer, der selbst eher für ein polterndes Politikverständnis bekannt ist, mahnte CDU und CSU jetzt zueinanderzufinden.
„Man fragt sich, sind die völlig wahnsinnig“, sagte Ex-Außenminister Sigmar Gabriel in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Der frühere SPD-Vorsitzende saß bei Koalitionsausschüssen in der vergangenen Legislaturperiode stets mit Merkel und Seehofer am Tisch – jetzt ist er einfacher Bundestagsabgeordneter. „Das Verrückte ist, beide haben recht“, sagte Gabriel. „Seehofer hat recht, dass wir wieder mehr Kontrolle über die deutschen Grenzen brauchen. Und die Merkel hat recht, dass das nicht geht ohne europäische Absprachen. Sonst haben sie vagabundierende Flüchtlingsströme innerhalb europäischer Binnengrenzen.“ Da müsse man zueinanderfinden können. „Ausgerechnet ich als Sozi sage: Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt.“ (mit fra)