Kinder im Irak: Inhaftiert und ohne Perspektive

Im Irak sitzen laut Terre des Hommes etliche Kinder und Jugendliche in Gefängnissen. Sie sollen dem IS angehört haben. Ihnen drohen Stigmatisierung und Ausgrenzung.
Bagdad - Freiheitsstrafen für IS-Rückkehrerinnen, eine Rückholaktion für mutmaßliche IS-Frauen und deren Kinder: Verstrickungen deutscher Staatsbürger:innen in die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) erregen hierzulande regelmäßig Aufmerksamkeit. Doch die Folgen für die Bevölkerung vor Ort seien aus dem Fokus geraten, kritisiert Henriette Hänsch vom im Irak tätigen Hilfswerk Terre des Hommes. Es gebe stets nur den „kleinen Lichtkegel auf unsere Probleme“, sagt sie im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau.
Tausende Minderjährige waren und sind im Irak wegen mutmaßlicher Verbindungen zum IS in Haft. Darauf macht Terre des Hommes in der Studie „Außerhalb des Blickfelds“ aufmerksam, die der FR vorab vorliegt. Viele der inhaftierten Kinder und Jugendlichen, darunter ehemalige Kindersoldat:innen, seien Gewalt wie Missbrauch ausgesetzt und teilweise zusammen mit Erwachsenen interniert. Ende 2020 waren laut der irakischen Justiz mehr als 2300 Minderjährige wegen IS-Zugehörigkeit in offiziellen Gefängnissen. Infolge der militärischen Niederlage des IS im Jahr 2017 schätzten irakische und kurdische Behörden die Zahl auf 5000. Beobachter:innen wie die von Terres des Hommes gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus sowie von vielen nicht erfassten Inhaftierten in inoffiziellen Gefängnissen.
IS-Kinder Irak: Appell an Bundesregierung
„Die Überlastung des gesamten Systems ist massiv“, ordnet Henriette Hänsch, die Autorin der Studie, die Lage der Haftanstalten auf Basis von Interviews mit Fachleuten vor Ort ein. Darunter leiden demnach jesidische und irakisch-turkmenische Kinder und Jugendliche, vor allem jedoch sunnitisch-arabische Minderjährige aus ehemaligen IS-Gebieten. „In Teilen bieten Zellen nicht ausreichend Platz zum Sitzen, Liegen und Schlafen“, heißt es in der Studie.
Mit der Studie will Terre des Hommes an die Bundesregierung appellieren, Einfluss auf die irakische Regierung zu nehmen, um die Situation zu verbessern. Laut Jessica Prentice, die das Engagement des Hilfswerks im Nordirak koordiniert, ist das drängendste Problem, dass das eigentlich gesetzlich vorgeschriebene Programm zur Rehabilitierung und Reintegration inhaftierter Minderjähriger wegen der Überlastung nicht zur Anwendung kommt. „Es sind schlicht plötzlich unglaublich viele Minderjährige in dieses System reingekommen, viel mehr als wofür es ausgelegt ist“, sagt sie.
IS-Kinder Irak: Keine „Hoffnung für die Zukunft“
„Neben der möglichen Inhaftierung ist diese Gruppe multiplen Formen von Stigmatisierung und Ausgrenzung ausgesetzt“, heißt es weiter in der Studie. Wegen eines verbreiteten Generalverdachts gegenüber Angehörigen der sunnitischen Minderheit im Irak, mit IS-Kämpfern kollaboriert zu haben, sei eine Rückkehr zur Familie oft unmöglich.
Ende Oktober berichtete Human Rights Watch von Dutzenden sunnitisch-arabischen Männern, die wegen Verbindungen zum IS im Nordirak teils noch als Jungen Gefängnisstrafen abgesessen hätten oder freigesprochen worden seien. Sie riskierten demnach eine erneute Verhaftung oder Gewalt, wenn sie versuchen sollten, zu ihren Familien in irakischen Gebieten zurückzukehren. „Nach Jahren des Leidens leben sie weiter im Limbo ohne Hoffnung für die Zukunft“, zitiert der Bericht eine Konfliktforscherin.
IS-Kinder Irak: Finanzielle Hilfe für Gegenpart
Hinzu komme, dass auf der Basis umstrittener Anti-Terrorismus-Gesetze Normen der internationalen Jugendgerichtsbarkeit sowie Kinderrechte verletzt würden: die auch vom Irak ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention, die vorgibt, dass Inhaftierungen von Kindern nur als letztes Mittel und für den kürzesten Zeitraum zulässig sind, und die „Peking-Prinzipien“ der Vereinten Nationen zur Jugendgerichtsbarkeit. Sie legen unter anderem fest, dass Untersuchungshaft für Kinder nur in Ausnahmen möglich sein soll – laut der Studie befanden sich Ende 2020 etwa 270 Minderjährige in Untersuchungshaft.
Wegen solcher Missstände formuliert Terre des Hommes in der Studie „Empfehlungen an die Bundesregierung“, wie man dem irakischen Gegenpart technisch und finanziell helfen könne.
IS-Kinder Irak: Situation in Gefängnissen finde zu wenig Beachtung
Der Irak zählt zu den Nexus- und Friedenspartnern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Diese Staaten werden im Einsatz gegen die „strukturellen Ursachen von Konflikten, Flucht und Gewalt“ unterstützt. Deutschland hat laut Bundesentwicklungsministerium (BMZ) seit 2014 mehr als zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
Die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (GIZ) ist im Auftrag des Bundes vielfältig in dem Land tätig. Eine Sprecherin der GIZ teilt auf Anfrage mit, zwischen 2018 und 2019 habe man Treffen organisiert zum Thema „psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die mit dem IS in Verbindung gebracht werden“. Die Veranstaltungen dienten demnach „dem informellen, fachlichen Austausch“. Henriette Hänsch lobt: „Die deutsche Regierung macht sehr viel“, doch die Situation in den Gefängnissen finde zu wenig Beachtung – das Thema sei hochsensibel und für die deutsche Seite „extrem herausfordernd“.
IS-Kinder Irak: Menschenrechtsverletzungen
Das BMZ äußert sich auf Anfrage nicht zur Lage, sondern verweist auf das Auswärtige Amt. Von dort ist zur Situation inhaftierter Minderjähriger im Irak zu hören: „Nach Ansicht des irakischen Staates und auch weiter Teile der Bevölkerung rechtfertigt die fortbestehende Aktivität und Bedrohung durch die Terrororganisation IS ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte und der Justiz. Dabei kommt es auch zu Menschenrechtsverletzungen.“
Die deutsche Botschaft in Bagdad und das Generalkonsulat Erbil brächten dies mit der irakischen Regierung regelmäßig zur Sprache, heißt es. Wie auch die Vereinten Nationen appellierten die Bundesregierung und die EU an die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und werben „für faire, nach rechtsstaatlichen Prinzipien ablaufende Prozesse und akzeptable Haftbedingungen“.
IS-Kinder Irak: Situation ähnelt der nach dem Sturz Saddam Husseins
Der Studie zufolge ist ein grundlegendes Problem, dass „kein nationaler Aktionsplan oder eine kohärente Strategie“ existiert, um die Lage zu verbessern. Zudem habe das mehrjährige IS-Terrorregime in weiten Teilen des Landes das „tief sitzende Misstrauen“ zwischen konfessionellen Gruppen verstärkt und den sozialen Zusammenhalt zerstört. Das Fehlen fairer Gerichtsverfahren und von Standards könne zur Folge haben, dass „strukturelle Diskriminierung und Ungerechtigkeiten als potente Konflikttreiber wirken“, schildern die Autor:innen mögliche langfristige Effekte. „Die Gefahr, betroffene Personengruppen so für extremistische Gruppierungen (erneut) empfänglich zu machen, steigt.“
Henriette Hänsch sagt: „Diese Erfahrung hat der Irak schon einmal gemacht.“ Ihrer Einschätzung nach ähnelt die Situation der nach dem Sturz des sunnitischen Machthabers Saddam Hussein Anfang des Jahrtausends. Damals bildete sich in den mit Hussein-Gefolgsleuten und Al-Kaida-Terroristen gefüllten Gefängnissen die Keimzelle des IS-Terrors. (Jakob Maurer)
Im Oktober landeten deutsche Frauen mit ihren Kindern aus Syrien in Frankfurt. Ein Großteil der mutmaßlichen IS-Anhängerinnen wird nach der Rückkehr inhaftiert.