Kein Seelenfrieden für ehemalige Heimkinder

Heimkinder haben in deutschen Heimen entsetzliches Leid erfahren, nicht selten auch Missbrauch. Was ihnen Staat und Kirchen an Entschädigung zahlten, reicht vielen nicht. Von Gabriele Gerner
Es war nur ein Dreivierteljahr – doch es war die schlimmste Zeit seines Lebens. Mit 18 Jahren kam Wilfried K.* in das Erziehungsheim Freistatt im niedersächsischen Landkreis Diepholz. Es war das Jahr 1968. Bis zum 21. Geburtstag galten Jungen und Mädchen damals noch als minderjährig.
Wilfrieds Stiefmutter war mit dem Heranwachsenden nicht zurechtgekommen und hatte von dessen Vater gefordert: „Schick den Jungen ins Heim.“ Von einem Tag auf den anderen musste Wilfried sein Zuhause in Hannover verlassen und seine Maurerlehre abbrechen. „Zum Abschluss hätte mir nur noch ein halbes Jahr gefehlt“, sagt der inzwischen 72-Jährige heute.
Die Jugendfürsorge brachte Wilfried ins Erziehungshaus Neuwerk. Die dortige Erziehungsstätte für Jungen, die zu den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (heute Bethel im Norden) gehörten, zählt zu den am brutalsten geführten Heimen Deutschlands.

Zusammen mit anderen Bewohnern musste Wilfried von morgens bis abends Torf stechen – an sechs Tagen pro Woche. „Schon, wenn wir morgens mit der Draisine im Torf ankamen, waren wir völlig erschöpft“, erinnert er sich. „Es war Schwerstarbeit.“ Schläge und Demütigungen gehörten zur Tagesordnung. Nicht nur die Aufseher schlugen brutal zu. Auch unter den Bewohnern herrschte das Recht des Stärkeren. Im Büro des Hausvaters wurde Wilfried mehrfach sexuell missbraucht. Schnell war ihm klar: „Hier muss ich weg.“
Wilfried stellte einen Antrag auf Übersiedlung in die DDR, wo seine Mutter lebte – das war sein Ausweg. Später kehrte er zurück nach Hannover, arbeitete zunächst am Band bei VW und danach beim Grünflächenamt. Seine Frau starb, als der gemeinsame Sohn 14 war. Wilfried K. zog ihn danach allein auf.
Die schrecklichen Ereignisse aus seiner Jugend hat er jahrelang niemandem anvertraut. Verständnis und Anteilnahme erfährt er seit Jahren bei den Treffen des Vereins der ehemaligen Heimkinder.

Dort trifft er auch regelmäßig Jutta B.* Die 73-Jährige aus dem Umland von Hannover war gerade 14 Jahre alt, als sie ins Frauenhaus Himmelsthür nach Hildesheim kam, eine Einrichtung der Diakonischen Werke. Jutta war bei ihren Großeltern aufgewachsen. Dann starb der Opa. Und die Großmutter sah sich nicht in der Lage, sich allein um Jutta zu kümmern. So übergab sie das Mädchen der Fürsorge.
In Himmelsthür war es dann mit der Schulbildung vorbei. Das Mädchen musste auf dem Feld Rüben hacken und in der Wäscherei Schwerstarbeit verrichten. Die evangelischen Schwestern führten ein brutales Regiment.
„Ich habe so entsetzlich gefroren“, berichtet Jutta B.. „Wir Mädchen trugen nur Holzpantinen und mussten die Wäsche im kalten Wasser auswringen.“ Bei kleinsten Vergehen wurde Jutta in der Dusche eingesperrt und geschlagen. „Bis heute kann ich nicht bei geschlossenem Fenster duschen“, sagt die 73-Jährige. Der Wasserdampf erinnert sie an die schlimmsten Momente ihres Lebens.
Noch heute ist sie sicher: „Davon haben Firmen wie Siemens profitiert“
Überhaupt hält Jutta B. es nicht in geschlossenen Räumen aus. Im Heim wurde sie als Jugendliche oft ins sogenannte „Stübchen“ eingesperrt – tagelang. In dem engen Raum gab es zwar eine Matratze, aber hinlegen durfte sie sich tagsüber nicht. „Wenn ich dabei erwischt worden wäre, wäre ich einen zusätzlichen Tag eingesperrt worden“, schildert sie rückblickend.
Nach einem Dreivierteljahr wurde Jutta ins Deisterhaus in Springe-Lüdersen verlegt. Auch in dieser Diakonie-Einrichtung waren Schikanen und Gewalt an der Tagesordnung. Das Essen war karg. Obst gab es nie.
Im Deisterhaus arbeitete Jutta in einer Werkstatt. Von früh bis spät musste sie mit einem Messer Elektro-Stecker reinigen, die palettenweise angeliefert wurden. Noch heute ist sie sicher: „Davon haben Firmen wie Siemens profitiert.“ Verbittert sagt sie: „Wir haben geschuftet und sind nicht dafür bezahlt worden“. Wilfried K. pflichtet ihr bei: „Uns wurde nicht nur unsere Jugend gestohlen, uns wurde auch Bildung vorenthalten.“
Geld und Hilfe
Rund 40 000 von Heimerziehung Betroffene haben laut Bundessozialministerium in den Jahren von 2012 bis 2018 eine Entschädigung erhalten. Knapp 485 Millionen Euro seien ausgezahlt worden. Zusätzlich zahlten die einzelnen Landeskirchen Entschädigungen.
Die Töpfe für die Rehabilitierun g von ehemaligen Heimkindern sind inzwischen geschlossen. Für Betroffene von sexuellem Missbrauch in Heimen oder in Kirchengemeinden sowie für Menschen, die als Kind auf Ferienfreizeiten misshandelt worden sind, besteht jedoch weiterhin die Möglichkeit, Entschädigungsleistungen zu beantragen.
Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie können sich unter Telefon: 0800 5040112 kostenlos und anonym beraten lassen oder sie erhalten Informationen unter:
Von staatlicher Stelle gibt es die Seite:
Nach drei Jahren in Erziehungsheimen schaffte es Jutta, mit einer Freundin zu fliehen. Sie verliebte sich, heiratete und zog mit ihrem Mann drei Kinder groß. Jahrelang arbeitete sie im Sekretariat eines Krankenhauses.
Vor rund zehn Jahren sah sie einen Film über Heimkinder im Fernsehen. „Das war alles genauso wie bei uns damals“, sagt sie. Nächtelang konnte sie danach nicht schlafen. Dann begann sie, ihren erwachsenen Kindern von ihrer Zeit in den Heimen zu erzählen. Nach und nach erfassten diese, welches Leid die Mutter in ihrer Jugend erlitten hat. Juttas Tochter begleitete sie zu Gesprächen mit Psycholog:innen und Kirchenvertreter:innen, ließ Gutachten anfertigen und stellte mit ihr zusammen Anträge auf Entschädigung.
18 000 Euro Entschädigung bekam Jutta von der evangelisch-lutherischen Landeskirche, Wilfried K. wurden 10 000 Euro von der Kirche zugesprochen. Weitere 10 000 Euro erhielten beide jeweils aus dem Fonds „Heimerziehung BRD 1949 bis 1975“. Einige Zehntausend Euro für eine gestohlene Jugend, einen geschundenen Körper und eine gebrochene Seele.
Besonders schmerzlich finden es beide, dass sie keine Rente für die erbrachten Arbeitsleistungen erhalten
Das Procedere um die Auszahlung aus dem Fonds war für beide ein eher demütigendes Erlebnis. „Das Geld haben wir nur erhalten, wenn wir nachweisen konnten, wofür wir es ausgeben“, schildert Wilfried K. Eine Auszahlung gab es nur nach Vorlage einer Quittung oder eines Kostenvoranschlages. Neue Möbel für seine Zwei-Zimmer-Wohnung und eine Brille kaufte sich der Rentner davon. „Ich habe mir von dem Geld die Zähne machen lassen“, erklärt Jutta B..
Die Möglichkeit, sich Rücklagen zu schaffen und das Geld für eine spätere Auszahlung zur Seite zu legen, habe nicht bestanden, sagen beide. „So sind wir ehemaligen Heimkinder auch noch als Erwachsene gegängelt worden“, bilanziert Wilfried K. verbittert.
Besonders schmerzlich finden es beide, dass sie keine Rente für die in ihrer Jugend erbrachten Arbeitsleistungen erhalten. „Wir wurden als Arbeitskräfte ausgenutzt und haben aufgrund dessen gesundheitliche Schädigungen davongetragen“, sagt Jutta B. „Das sollte doch wenigstens einigermaßen honoriert werden.“ Doch mit ihren Anträgen auf eine Beschädigtenrente nach dem Opfer-Entschädigungs-Gesetz (OEG) scheiterte sowohl Jutta B. als auch Wilfried K..
Wilfried K. sagt: „Nach heutigem Verständnis ist die Arbeit, die wir damals leisteten, Zwangsarbeit“
Grundsätzlich gilt: Alle Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland Opfer einer Gewalttat geworden sind, haben Anspruch auf eine Beschädigtenrente nach dem Opfer-Entschädigungs-Gesetz (OEG). Dies gilt für Taten, die nach dem 15. Mai 1976 verübt worden sind. Für Opfer von Taten, die zwischen dem 23. Mai 1949 und dem 15. Mai 1976 – wie bei Jutta B. und Wilfried K. – erfolgt sind, gibt es eine Härtefallregelung. Doch bei beiden wurden die Anträge nach Jahren der Prüfung abgelehnt.
Das zuständige Landessozialgericht begründete die Ablehnung von Jutta B.’s Antrag damit, dass bei ihr keine psychischen Funktionsstörungen festgestellt worden seien, die mit einem Grad der Schädigung (GdS) von mindestens 50 bewertet wurden. „Man wird bestraft dafür, dass man sein Leben auf die Reihe gekriegt hat“, kommentiert Jutta B. dies mit Sarkasmus in der Stimme.
Auch der Verband der ehemaligen Heimkinder (VEH) kämpfte jahrelang um die rentenrechtliche Anerkennung der Arbeitsleistungen der Heimkinder. Heidi Dettinger vom VEH fordert: „Man müsste den Mindestlohn der damaligen Zeit ansetzen, die Zahl der geleisteten Stunden hochrechnen und den Betrag dann noch über die Jahre, in denen nichts gezahlt wurde, verzinsen.“ Doch dies wurde nie erreicht.
„Nach heutigem Verständnis ist die Arbeit, die wir damals leisteten, Zwangsarbeit“, sagt Wilfried K. und Jutta B. nickt zustimmend. Das sieht auch Heidi Dettinger so und kritisiert: „Ursula von der Leyen hatte damals als Bundesfamilienministerin klargestellt, dass die Arbeiten der Kinder und Jugendlichen in den Heimen in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren eine erzieherische Maßnahme darstellten. Damit wurde es als ‚Zwang zur Arbeit‘ definiert, was sich klar von der Zwangsarbeit nach Definition der ILO (International Labour Organisation der UN) unterscheidet.“ Die Folge: Rechtlich kann keine Wiedergutmachung erwirkt werden.
„Wir wollen auch nach vorn schauen und leben“, sagt Jutta B.
Das Bundesfamilienministerium erklärt im Abschlussbericht der Lenkungsausschüsse der Heimerziehungs-Fonds, dass „die Ziele der Fonds im Wesentlichen erreicht wurden“. Die Auszahlung von Entschädigungen habe Folgeschäden bei Betroffenen abgemildert und für Genugtuung und Befriedung gesorgt, heißt es dort. Mehr als 80 Prozent der Betroffenen hätten angegeben, mit den Entschädigungsleistungen im Rahmen des Fonds Heimerziehung zufrieden zu sein.
Heidi Dettinger, Jutta B. und Wilfried K. gehören nicht dazu. Aber weiter klagen möchten sie nicht mehr. „Wir wollen nicht immer nur zurückblicken, das ist zu schmerzhaft“, sagt Jutta B.. „Wir wollen auch nach vorn schauen und leben.“
Sie wohnt mit einem ihrer Söhne und der Schwiegertochter in einem Haus. Wilfried K.’s Sohn ist vor Kurzem wieder bei ihm eingezogen. „Wir haben unsere Kinder ganz anders erzogen, als wir das erlebt haben. Liebevoll, gewaltfrei und auf Augenhöhe“, betont Jutta B.. Darauf sind sie und Wilfried K. sehr stolz. Aber ihren Seelenfrieden haben die beiden nicht gefunden. „Es gibt gute und es gibt schlechte Tage“, sagt Wilfried K.
*Die Namen sind der Redaktion bekannt.