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"Er war kein Nationalsozialist"

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Günther Oettinger (am Pult, rechts), spricht bei der Trauerfeier für den verstorbenen Hans Filbinger am vergangenen Mittwoch im Freiburger Münster.
Günther Oettinger (am Pult, rechts), spricht bei der Trauerfeier für den verstorbenen Hans Filbinger am vergangenen Mittwoch im Freiburger Münster. © dpa

Auszüge aus der Ansprache des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger beim Staatsakt zum Tod Hans Filbingers

Tief bewegt nehmen wir Abschied von Hans Karl Filbinger. (?)

Auch viele Bürger im Land denken in diesen Tagen an Hans Filbinger. Die Reaktionen zeigen, welcher Respekt, welche Bewunderung, ja Zuneigung ihm zuteil geworden sind. Nichts macht augenfälliger, was er für unser Land war: ein großer und verdienter Demokrat. Eine öffentliche Autorität, erwachsen aus einem Lebenswerk, das für die hervorragende Entwicklung unseres Landes steht. Mit Hans Filbinger geht einer der Letzten, der den Aufbau unseres Landes nicht nur miterlebt, sondern auch entscheidend mitgestaltet hat.

Ich maße mir nicht an, sein Leben und Wirken in wenigen Sätzen zusammenfassen zu können. Aber klar ist: Hans Filbinger war mehr als nur ein großer Politiker. Seine Person steht für beinahe 100 Jahre deutscher Zeitgeschichte! So blicken wir heute mit großem Respekt auf einen Mann, der alle Höhen und Tiefen des letzten Jahrhunderts selbst erlebt hat.

Auf einen Mann, - der noch im Kaiserreich in Mannheim geboren wurde und der fünf Jahre alt war, als der Erste Weltkrieg zu Ende ging,

- der in der Weimarer Republik heranwuchs und Zeuge des Untergangs der ersten Demokratie auf deutschem Boden war,

- der 20 Jahre alt war, als Hitler die Macht ergriff und 32 Jahre alt, als der furchtbare Krieg sein Ende fand.

Anders als in einigen Nachrufen zu lesen, gilt es festzuhalten: Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen wie Millionen andere. Wenn wir als Nachgeborene über Soldaten von damals urteilen, dann dürfen wir nie vergessen: Die Menschen lebten damals unter einer brutalen und schlimmen Diktatur!

Er hat die Nazis-Ideologie verachtet

Hans Filbinger wurde - gegen seinen Willen - zum Ende des Krieges als Marinerichter nach Norwegen abkommandiert. Er musste sich wegen seiner Beteiligung an Verfahren der Militärjustiz immer wieder gegen Anschuldigungen erwehren. Es bleibt festzuhalten: Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte. Und bei den Urteilen, die ihm angelastet werden, hatte er entweder nicht die Entscheidungsmacht oder aber nicht die Entscheidungsfreiheit, die viele ihm unterstellen.

Hans Filbinger hat mindestens zwei Soldaten das Leben gerettet: Einer von ihnen, Guido Forstmeier, weilt noch heute unter uns und kann bezeugen, dass sich Filbinger dabei großer Gefahr ausgesetzt hat.

Manfred Rommel hat dieser Tage bekräftigt, dass er Filbingers Rücktritt vom Amt des Regierungschefs nach wie vor nicht für erforderlich gehalten hat. Wie viele andere Menschen, die das Dritte Reich erlebt haben, sei er schicksalhaft in Situationen hineingeraten, die den Menschen heute zum Glück erspart bleiben.

Hans Filbinger hat also die schreckliche erste Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht nur erlebt, er hat sie auch erlitten. Jahrzehnte später wurde ihm seine Mitwirkung während der letzten Kriegswochen vorgehalten. Viele waren befremdet. Er war betroffen und gekränkt. Mit seinem Rücktritt zog er eine weitreichende Konsequenz.

Für mich und meine Generation ist es leicht, die Kriegszeit zu beurteilen. Vielleicht aber in Wahrheit schwer oder auch unmöglich, weil wir sie nicht erleben mussten. Und wir nicht ermessen können, wie brutal und diktatorisch die Umstände damals gewesen sind. Hans Filbinger hat vor allem viel dazu beigetragen, dass die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts in unserem Land einen ganz anderen, einen guten Verlauf genommen hat. Er war ein Mann der ersten Stunde. Es gibt nur wenige, die von Beginn an und bis heute um das Wohl unseres Landes so besorgt und so erfolgreich tätig waren wie er. Unser Land, Baden-Württemberg, stünde heute nicht so gut da, wenn er nicht seine ganze Kraft, seine Ideen und Ideale, seine geschichtliche Erfahrung und sein Können eingebracht hätte.

Hans Filbinger war bereits in jungen Jahren von jenem Denken getragen, das später den Aufbau Baden-Württembergs, aber auch Deutschland im Ganzen ermöglicht hat. Welches Denken meine ich dabei?

Er kam bereits in den Jahren der Weimarer Zeit zu der Überzeugung, dass der Totalitarismus von rechts und auch von links nur verhindert oder überwunden werden kann, wenn sich die Deutschen wieder auf die Traditionen der christlich-bürgerlichen Kultur besinnen. Er hat aus der Erfahrung von Weimar gelernt, dass eine Demokratie nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Bürger zu rechtsstaatlichem Bewusstsein und zu humanen Werten erzogen, und wenn sie mit einer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung vertraut gemacht werden.

Filbinger hat deshalb den Nationalsozialismus immer verachtet. Die Weltanschauung war für jemanden wie ihn, der aus einem katholischen Elternhaus stammte und der sich als gläubiger Christ verstand, schlichtweg unerträglich. Hans Filbinger hat aus diesem Glauben heraus gehandelt und in der Zeit des Nationalsozialismus großen Mut bewiesen:

- er hat im katholischen Schülerbund "Neudeutschland" mitgewirkt;

- er hat als Leiter des Bezirks Nordbaden die Gleichschaltung mit der Hitlerjugend bekämpft;

- er hat seine Kommilitonen zur Standhaftigkeit gegen die NS-Vertreter aufgerufen;

- er wurde dafür von den Nazis auf die schwarze Liste der Regimegegner gesetzt.

- Der Jugendbund, dem er angehörte, wurde schließlich im Jahre 1939 durch die Gestapo verboten und die Begegnungsstätte als "staatsfeindliches Vermögen" beschlagnahmt.

Schon zwei Jahre vor dem Krieg ging Hans Filbinger in den Kreis um den berühmten katholischen Publizisten Karl Färber und den Dichter Reinhold Schneider, die sich in erklärter Gegnerschaft zum Regime befanden. Freunden und Verwandten hat er oft erzählt, wie prägend dieser Freiburger Kreis für ihn gewesen ist und wie viel er ihm verdanke.

Er wirkte darüber hinaus in einem weiteren Kreis mit, der für die Entwicklung der freiheitlichen Bundesrepublik von größter Bedeutung gewesen ist. Ich meine den Kreis um Walter Eucken und Franz Böhm, jenen Begründern der "Freiburger Schule", die bereits während des Krieges das Konzept des Ordoliberalismus entwickelt hat, woraus später die soziale Marktwirtschaft entstand.

All dies zeigt: Hans Filbinger war bereits in jungen Jahren von einem christlich-freiheitlichen Geist geprägt. Und er ist diesem Geist, dem Geist von Freiburg, sein Leben lang treu geblieben! Hans Filbinger hat später in allen Funktionen - als Wirtschaftsanwalt, als Stadtrat, als Staatsrat, als Abgeordneter, als Innenminister und auch als Regierungschef - vor allem als Regierungschef - wesentlich daran mitgewirkt, dass diese Ordnung der Freiheit nicht Theorie blieb, sondern Wirklichkeit geworden ist.

Er hat dem Marxismus widerstanden

Viele werden es nicht wissen: Aber Hans Filbinger hat nicht als Politiker, sondern als Wissenschaftler begonnen. Es war kein Geringerer als Walter Eucken, der den Studenten Filbinger an der hiesigen Hochschule im Jahre 1934 an das Seminar für "Recht der Wirtschaftsordnung" berufen hat. Seine wissenschaftliche Arbeit in Euckens Seminar war von der Absicht getragen, die Macht der großen Wirtschaftskonglomerate, die sich in Weimar so unheilvoll auswirkte, zu brechen und den Aufbau einer mittelständisch geprägten Wirtschaft zu befördern. Auch war es sein Ziel, dass der Grundsatz von Treu und Glauben in der Wirtschaft wieder Einzug hält und das Verhalten der Unternehmer durch ein Ethos getragen wird.

Nach dem Krieg war Hans Filbinger gerade dabei, sich als Wissenschaftler und als Wirtschaftsanwalt einen Namen zu machen, als seine berufliche Entwicklung eine Wendung nahm. 1952 bot ihm der Freiburger Abgeordnete der CDU, Dr. Kopf, an, ein Mandat als Stadtrat von Freiburg anzustreben. Hans Filbinger musste sich entscheiden. Und er hat sich entschieden. Herausforderungen ist er niemals ausgewichen. Er hat sich ihnen gestellt. Ja, er hat sie sogar gesucht. (?)

Zwanzig Jahre war er in unserer Regierung als Staatsrat, als Innenminister und zwölf Jahre als Ministerpräsident. Er war streng, er war fürsorglich, er war vorbildlich, er war fleißig, er war sachkundig, er war mutig und weitsichtig und er hat früh Talente und Begabungen erkannt und gefördert. Seine Kabinette waren bundesweit vorn. Ich nenne Roman Herzog, Annemarie Griesinger, Gerhard Weiser, ich nenne die Weggefährten Lothar Späth und Erwin Teufel. Ich nenne Wolfgang Schäuble aus Baden-Württemberg. Er hat junge Männer und Frauen zum Staat geholt und ihnen Aufgaben gegeben - Spitzenbeamte, Persönlichkeiten entstanden daraus. Ich nenne Manfred Rommel, Gerhard Mayer-Vorfelder, Erwin Vetter für viele andere. Wenn Baden-Württemberg in der Bildung heute bundesweit vorne liegt und wenn unser Land in den 70er Jahren dem marxistischen Zeitgeist widerstanden hat, dann verdanken wir dies vor allem Hans Filbinger.

Ihm war es stets wichtig, dass Inhalte für Bildung nicht zu kurz kamen. "Mut zur Erziehung" - so hat sein damaliges Wort gelautet und "Mut zur Erziehung" ist heute aktuell wie damals. Denken wir nur an das Buch von Bernhard Bueb, das soeben zum Bestseller wurde. Hans Filbinger hat früh erkannt, dass die dogmatisch antiautoritäre Erziehung, die an anderen Orten gefordert worden ist, ein - wie er sagte - "ideologischer Irrläufer" war. Er ist dafür von manchen scharf angegriffen worden. Aber er hat hier mit Sicherheit Recht behalten, dies stellt sich heute mehr denn je heraus. Humanistische Bildung und christliche Erziehung, Familie, Bürgertugenden, Patriotismus - all das, wofür er sein Leben lang eintrat, erfährt heute eine neue Wertschätzung.

Hans Filbinger wollte ein fortschrittliches, ein modernes und ein bewahrendes Baden-Württemberg. Und er wünschte sich, dass sein Land tief in der Geschichte verwurzelt bleibt:

- Ein Baden-Württemberg, das sich - ich erinnere an die große Staufer-Ausstellung 1977 - um eine eigene Identität erfolgreich bemüht.

- Ein Baden-Württemberg, dem die europäische Einigung und die Freundschaft mit Frankreich ein großes Anliegen ist.

- Und ein Baden-Württemberg, das sich dem christlich-humanistischen Erbe verpflichtet weiß.

Fest verankert in der christlich-abendländisch-europäischen Kultur und gleichzeitig der Zukunft zugewandt: das war sein Lebensmotto. Es ist das Motto, dem sich unser Land seitdem verpflichtet weiß. Und er war ein Landesvater im besten Sinne dieses großen Wortes.

Das Land verliert mit Hans Filbinger eine prägende Persönlichkeit. Wir, die Generationen nach ihm, verlieren mit ihm einen zuverlässigen, kompetenten und aufrichtigen Mitbürger, einen väterlichen Weggefährten und Ratgeber, dessen Rat uns stets viel bedeutet hat.

Er war da, wenn die Pflicht rief

Ich erinnere mich gerne, wie er auch nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik immer dabei war, wenn die Pflicht rief. Bei Parteitagen von Land und Bund, bei Vorstandssitzungen und im Präsidium, bei Versammlungen zur Wahl des Bundespräsidenten. Er hat sich nicht zurückgezogen, sondern in dem Maße, wie wir seinen Rat brauchen konnten, stand er für uns bereit. Nicht aufdringlich, aber gewichtig. Die letzte Begegnung war Anfang des Jahres, als er körperlich gebeugt, aber geistig völlig klar und am aktuellen Geschehen interessiert in Stuttgart für ein Kaffeegespräch mit Lothar Späth und Erwin Teufel zu Gast war und damals in einem beeindruckenden Maße über unsere Tagesordnung, über die aktuellen Geschehnissen informiert gewesen ist.

Sein Freund Dr. Friedmann hat mir dieser Tage einen Brief zugeleitet, nur zwei Wochen alt, in dem Hans Filbinger seinem Freund, Dr. Friedmann, zum Geburtstag gratulierte mit einer klaren Handschrift, seiner markanten Unterschrift. Er war bis zuletzt ein Wegbegleiter für uns und ein pflichtbewusster und aufrichtiger Mensch. (?)

Bekanntlich ist nur der wirklich tot und vergessen, der aus den Herzen und der Erinnerung der Menschen verschwindet. Ich bin sicher: Hans Filbinger wird weiterleben - in unseren Herzen, in unserer Erinnerung und mit seinem politischen Lebenswerk für uns und die nächsten Generationen.

"Die Bahre ist die Wiege des Himmels", sagt Jean Paul. Und so ist Hans Filbinger heimgekehrt in die Arme seines Herrn. Wir werden dem Verstorbenen ein würdiges Andenken bewahren, möge er in Gottes Frieden ruhen.

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