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Bergkarabach: Kein Frieden ohne Frauen

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Eine Straßenszene aus Eriwan, der Hauptstadt von Armenien.
Eine Straßenszene aus Eriwan, der Hauptstadt von Armenien. © Arthur Bauer

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wirkt auch ins Private und hemmt Entwicklungschancen. Das schwächt auch die Bemühungen um einen nachhaltigen Frieden. Eine Reportage von Ira Peter

Nach dem ersten Bergkarabach-Krieg galten unsere Männer als Helden“, sagt die Armenierin Gayane Hambardzumyan. „Und Helden dürfen Frauen schlagen, sagten sich unsere Frauen“, fährt die Leiterin des Women’s Center in Schuschi, einer Stadt in Bergkarabach, fort.

Seit der Niederlage Armeniens im zweiten Krieg vor zweieinhalb Jahren gelten Männer, die gekämpft haben, nun als Opfer. Was erneut die Gewalt zu Hause rechtfertige. Drei von vier Frauen erleben in Armenien Gewalt, meist von männlichen Angehörigen.

Der seit über dreißig Jahren immer wieder aufflackernde Krieg zwischen den südkaukasischen Ländern um die nach Unabhängigkeit strebende Region verschärft laut Gayane Hambardzumyan das Problem. Seit 2008 leitet sie das Women’s Center und unterstützt Frauen aus Bergkarabach dabei, als Geflüchtete in Eriwan eine Wohnung zu finden oder psychologisch beraten zu werden – meist wegen Gewalt- und Kriegserfahrungen.

Psychischer Druck führt zu mehr Gewalt

Die Blockade des Latschin-Korridors seit Dezember 2022, der einzigen Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach, erschwere die Situation von Frauen zusätzlich. Die über 100 000 Menschen in der Enklave stehen unter starkem psychischen Druck: „Sie wissen nicht, ist morgen wieder Krieg?“, sagt Hambardzumyan. Diesen Druck ließen Männer oft an weiblichen Familienmitgliedern aus. Die Blockade führe auch dazu, dass Frauen Hygieneartikel nur über die dort stationierten russischen Soldaten zu sehr hohen Preisen bekommen.

Hambardzumyan sagt: „Weil es keinen Treibstoff gibt, kommen Frauen aus dem Umland nicht zu gynäkologischen Vorsorgeuntersuchungen oder Schwangerschaftsabbrüchen in die Stadt Stepanakert.“ Zudem haben Frauen derzeit noch seltener Chancen auf Arbeit als ohnehin schon auf dem sehr schwachen Markt in Bergkarabach. „Ihre männlichen Familienmitglieder erlauben ihnen oft nicht, einen Beruf zu lernen“, erklärt sie. Gleichzeitig sind Frauen in kriegsbetroffenen Familien oft die einzig Arbeitsfähigen.

Frauen leiden mehr unter dem Konflikt als Männer, ist auch Lida Minasyan überzeugt. Ich treffe sie im April in einem Café in Eriwan. Sie hat 2020 die NGO Women’s Agenda in Eriwan gegründet, die die Rechte von Frauen stärken soll. Sie sagt: „Männer ziehen in den Krieg, sie sterben dort oder kommen mit Behinderungen zurück. Aber auf Frauen lasten in deren Abwesenheit die Verantwortung und alle Aufgaben.“ Gleichzeitig würden sie in den Grenzregionen und der Enklave Bergkarabach aber nicht eingebunden, wenn Notfallpläne entwickelt werden. „Frauen sind Krisenmanagerinnen, ohne davon eine Ahnung zu haben“, sagt die 30-Jährige.

Einen Friedensvertrag könnte es zu Aserbaidschans Konditionen geben

Dass sich die armenische Regierung unter Führung Nikol Paschinjans nun offen für eine Friedensvereinbarung zeigt, ist in Minasyans Augen ein wichtiger Schritt. Hambardzumyan fürchtet aber, dass ein Kompromiss bedeuten könnte, dass die Region Aserbaidschan zugesprochen wird, auf dessen Gebiet sie völkerrechtlich liegt. Das wäre für die meisten Menschen in Bergkarabach nicht akzeptabel.

Einen Frieden werde Aserbaidschan in jedem Fall nur unter seinen Bedingungen schließen, davon ist die Aserbaidschanerin Sevil Huseynova überzeugt. Sie ist Friedensforscherin und Mitglied der Armenisch-Aserbaidschanischen Organisation Imagine Center for Conflict Transformation, die sich mit Schulungen und Medienkampagnen für Frieden im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt einsetzt. Die Bedingungen seien klar: Armenien soll seine militärischen Einheiten vollständig aus Bergkarabach abziehen und die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkennen.

„Um Druck auf Armenien auszuüben, greift Aserbaidschan grenznahe Regionen wie Sjunik im Südosten Armeniens an“, erklärt sie. Auch die Blockade des Latschin-Korridors gehöre zu dieser Strategie. Weltweit steigende Energiepreise hatten dem Ölstaat zunehmend wirtschaftliche und militärische Überlegenheit gegenüber Armenien ermöglicht. Nach der Rückeroberung von Gebieten um Bergkarabach 2020 und mit der Türkei als Partner sei das Land nun selbstbewusst.

Auf dieser Basis des Ungleichgewichts werde es keinen nachhaltigen Frieden zwischen den Ländern geben, so Huseynova, die seit 2010 in Berlin lebt. Zwar werde sie in ihrer Heimat nicht bedroht, frei arbeiten könne sie im autoritär regierten Land aber nicht. Als Friedensaktivistin bemüht sie sich ebenso wie Lida Minasyan um eine Annäherung zwischen den Ländern. Das ist weder in Aserbaidschan noch im um Demokratie bemühten Armenien populär. Denn in beiden Ländern gibt es kaum Menschen, die nicht selbst oder durch ihr unmittelbares Umfeld von den beiden Kriegen mit Zehntausenden Toten sowie Hundertausenden Geflüchteten betroffen sind. Vertreibungen und Kriegsverbrechen, die beide Seiten begangen haben, führten zu einer nicht allein räumlichen Trennung, die bis heute keinen Kontakt zur Gegenseite zulässt.

Verhandlungen nur über Grenzverläufe, nicht über Vergangenheitsbewältigung

Sevil Huseynova sieht darin ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einer nachhaltigen Friedenslösung. „Der Nationalismus ist in beiden Ländern sehr stark. Wir brauchen aber einen Dialog, in dem es auch um das sich gegenseitig zugefügte Leid geht, um Vertreibungen und Pogrome.“

Wie dem 1992 in der Stadt Chodschali in Bergkarabach. Armenische und russische Soldaten töteten damals mehrere Hundert Menschen aserbaidschanischer Herkunft. Oder den Pogromen an der armenischen Bevölkerung in der Sumgait 1988 oder in Baku 1990. Statt Aufarbeitung für einen echten Frieden, so die Aserbaidschanerin, gehe es in Verhandlungen aber stets nur um Grenzverläufe.

Armenien gibt dem Ansatz der Aufarbeitung mehr Spielraum als sein Nachbar und genau hier setzt Women’s Agenda an. Die NGO vermittelt Frauen geschichtliche Fakten zum Bergkarabach-Konflikt. „Das, was Menschen in Armenien und Aserbaidschan in Geschichtsbüchern erfahren, entspricht nicht der Wahrheit. Wir bewerten gemeinsam neu“, erklärt Lida Minasyan.

Auf dieser Grundlage erarbeiten sie auch Strategien, mit denen sich Frauen in Friedensverhandlungen vor allem in den Grenzgebieten einbringen können. Rund 40 Frauen werden derzeit auf diese Weise zu Friedensbotschafterinnen ausgebildet, finanziert von Partnern wie dem Women’s Fund aus Armenien oder der schwedischen Stiftung Kvinna till Kvinna.

Verbindung von Pazifismus und Feminismus

Projekte, die feministische mit pazifistischen Themen verknüpfen, sind selten in Armenien: „Es ist sehr schwierig, Leute zu finden, die sich für eine Versöhnung einsetzen“, sagt Minasyan. Auch aus Sicherheitsgründen: „Selbst, wenn wir aktuell nicht von unserer Regierung bedroht werden, kann das eines Tages passieren.“

Die Lage sei zwar nicht so gefährlich wie für ihre Partnerinnen in Aserbaidschan. Der Einfluss von Frauenorganisationen auf die armenische Regierung und den Friedensprozess sei aber trotzdem kaum größer als im Nachbarland. „Es ist besser als vor der Revolution 2018“, sagt die Menschenrechtsexpertin. Die Organisation könne ihre Vorschläge in Ministerien wie denen für Arbeit oder Soziales einbringen, ihre Stimmen hätten aber kaum Einfluss auf Entscheidungen. Das hänge mit der Ungleichstellung von Frauen und Männern zusammen, die per Gesetz zwar nicht bestehe, im Alltag aber auf allen Ebenen wirke. Oft müssten Frauenorganisationen deshalb „internationale Hebel“ wie von der EU organisierte Dialoge im Ausland nutzen, um gehört zu werden.

Vertanes Potenzial auf beiden Seiten, finden Minasyan und Huseynova. Denn die Teilhabe von Frauen sei entscheidend für den Erfolg von Friedensinitiativen. Wenn beide Regierungen einem Ansatz des tabufreien Dialogs folgten, könnte es schneller zu einem nachhaltigen Frieden kommen – unabhängig davon, ob der Ansatz von Frauen stammt oder Männern. Denn das Geschlecht spiele hier keine Rolle, sagt Huseynova: „Nationalismus und Militarisierung kennen keine Geschlechterunterschiede. Der Frieden auch nicht.“ (Von Ira Peter)

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