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Kunterbunt und feministisch: In Brasilien ist der Karneval hochpolitisch

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Von: Lisa Kuner

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Karneval in Brasilien findet erstmals wieder ohne Corona-Einschränkungen statt. Für viele Gruppen stehen neben dem Spaß auch politische Botschaften im Vordergrund.
Karneval in Brasilien findet erstmals wieder ohne Corona-Einschränkungen statt. Für viele Gruppen stehen neben dem Spaß auch politische Botschaften im Vordergrund. © Ilú Obá de Min

Zum ersten Mal seit Corona findet der Karneval ohne Einschränkungen statt. Für die meisten steht der Spaß im Vordergrund, für viele Karnevalisten ist das Fest aber auch hochpolitisch.

São Paulo – Normalerweise probt die Karnevalsgruppe „Obscências“ unter freiem Himmel. Aufgrund des starken Regens haben sich die Frauen an einem Donnerstagabend Anfang Februar aber in einer Bar im Viertel Vila Madalena im Zentrum von São Paulo versammelt. Es geht etwas chaotisch zu, rund 30 Frauen unterhalten sich, lachen und üben auf ihren Blasinstrumenten für die bevorstehenden Straßenumzüge. Immer wieder sind schiefe Töne zu hören, aber langsam werden die Frauen besser. Die 34-jährige Stefani Modoni ist seit gut einem Jahr dabei, sie spielt Trompete. Für sie ist dieser Karneval der erste, an dem sie richtig teilnimmt. Die anderen Frauen in der Gruppe haben ihr beigebracht, wie man Trompete spielt. Sie freut sich schon auf die Straßenumzüge.

Der Straßenkarneval in Brasilien ist legendär. Besonders bekannt sind die Feiern in Rio de Janeiro und in Olinda, im Nordosten von Brasilien, aber auch in vielen anderen Städten herrscht zwischen Freitagnachmittag und Aschermittwoch 12 Uhr so etwas wie Ausnahmezustand. Sogenannte „Blocos“, das sind meist Percussion-Bands oder eben Blaskapellen, ziehen dabei durch die Straßen – und mit ihnen die Feiernden. Bei den größten Blocos versammeln sich oft Hunderttausende Menschen. „Der brasilianische Straßenkarneval ist das größte Fest des Landes. Er ist die Personifizierung der brasilianischen Identität, unsere größte Repräsentation“, sagt dazu Chico Silva, Gründer des Blocos Ursal, im Interview mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA.

Karneval in Brasilien: Ein inklusives Straßenfest – doch Übergriffe auf Frauen sind allgegenwärtig

Der Straßenkarneval ist im Ausland weniger bekannt als die berühmten Samba-Paraden; in Brasilien selbst dafür aber umso beliebter. Das liegt auch daran, dass der Straßenkarneval viel inklusiver ist. Man muss für diese Spektakel keinen Eintritt bezahlen, sodass auch ärmere Brasilianer und Brasilianerinnen teilnehmen könne. Für Chico Silva von Ursal ist das der echte Karneval: „Karneval sollte da sein, wo die Menschen sind – und die sind auf der Straße. Die Straße ist der Ort, an dem wir uns Gehör verschaffen können. Sie ist ein demokratischer Ort. Ein Ort voller Körper, Seelen und freier Gedanken.“

Auch Obscências – auf Deutsch „die Obszönen“ – spielen umsonst auf der Straße. Sie sind eine feministische Karnevalsgruppe. Man kann sich die Gruppe wie eine moderne Blaskapelle vorstellen. Sie interpretieren internationale Klassiker wie „Like a Virgin“ und „Girls just wanna have fun“ oder Songs des brasilianischen Superstars Anitta. Die Lieder haben alle etwas gemeinsam: Sie wurden von Frauen geschrieben oder interpretiert. „Wir hatten festgestellt, dass ein großer Teil der Musiker beim Karneval Männer sind“, sagt die 39-jährige Giovanna Lavorato, die ebenfalls in der Band spielt. Das wollen Oscênicas ändern: Während der Zwangspause durch die Pandemie gaben sie Workshops zum Erlernen von Instrumenten, ermutigten Frauen mitzumachen.

Wenn sie auf Straßen oder Plätzen von São Paulo üben, machen die Mitglieder der Band aber manchmal auch unangenehme Erfahrungen. „Bei unseren Proben auf öffentlichen Plätzen, gibt es immer wieder Männer, die denken, dass sie unsere Probe unterbrechen und uns behindern können“, erzählt Giovanna Lavorato im Interview. „Ich habe den Eindruck, dass das anders wäre, wenn ein Mann die Probe leiten würde. In einer patriarchalen Gesellschaft fallen Frauenkörper auf der Straße besonders auf.“

Obwohl die Trompeterin Stefani Modoni den Karneval und die Musik liebt, hat sie manchmal auch gemischte Gefühle gegenüber dem Fest: „Auf dem Karneval fühlt man sich als Frau auch ein bisschen schutzlos. Überall sind so viele Leute. Man lebt immer mit der Furcht, dass irgendeine Art von Übergriff passieren könnte. Als Frau auf dem Karneval zu sein ist also irgendwie bittersüß: Man genießt das tollte Fest, aber man muss auch immer auf der Hut sein.“ Sie denkt, dass feministische Gruppen das ändern können, indem sie einen sicheren Ort für alle bieten.

Brasilien: Karneval ist ein hochpolitisches Straßenfest

Das sehen andere ganz ähnlich: Elizabeth Belizário – besser bekannt als Beth Beli – engagiert sich schon ewig für den Karneval. Sie hat vor knapp 20 den Bloco Ilú Obá de Min mitgegründet. Das bedeutet auf Deutsch ungefähr „Weibliche Hände, die für den König Xangô trommeln“. Wie der Name vermuten lässt, setzt sich die Gruppe für afrobrasilianische Kultur ein. Was einmal mit einer fixen Idee von knapp zehn Frauen angefangen hatte, ist nun eine richtige Institution im Karneval von São Paulo geworden. Rund 350 Frauen spielen in der Band auf verschiedensten Trommeln und anderen Rhythmus-Instrumenten. Dazu kommen ausdrucksstarker Tanz und Gesang, der auch den sogenannten Orixás gilt, also traditionellen afrikanischen Göttern. „Mich persönlich hat das Trommeln so bestärkt, das wollte ich gerne weitergeben“, sagt Beth Beli im Interview.

Die Auftritte von Ilú Obá de Min eröffnen jedes Jahr den Karneval in São Paulo, dieses Jahr erwarten sie dazu 100.000 Besucherinnen und Besucher. Ihre Shows sind aber nicht einfach nur schön anzusehen. „Ziel unseres Blocos ist es, die Geschichte der letzten 500 Jahre zu erzählen – aus der Perspektive von Schwarzen Frauen“, sagt Beth Beli. „Durch die Sklaverei und ihre Folgen habe viele Schwarze Frauen viel zu lange gedacht, sie hätten nichts zu sagen“. Auch in den Unis und Schulen werde kaum über Schwarze Frauen gesprochen. Darum wählen die Frauen von Ilú Obá de Min jedes Jahr eine Schwarze Brasilianerin aus, der sie ihren Auftritt widmen. In der Vergangenheit war das zum Beispiel die berühmte Sängerin Elza Soares, in diesem Jahr wird der Auftritt eine Hommage an Sueli Carneiro. Carneiro ist eine wichtige Philosophin, Feministin und Antirassismus-Aktivistin. Ein halbes Jahr hat sich die Gruppe auf den Auftritt vorbereitet. Beth Beli hofft, dass alles gut geht.

Auch wenn einige der Karnevalisten nach drei Jahren Pandemie etwas angespannt sind, die meisten freuen sich vor allem, dass sie endlich wieder zurück auf die Straße können. Chico Silva sagt mit Hinblick auf die bevorstehenden Tage: „Wir freuen uns riesig, wieder auf die Straße zu können. Nach der Pandemie können wir jetzt endlich wieder Menschen treffen, uns umarmen, einander küssen. Die Freude darüber ist riesig. Die Sonne ist zurück und der Karneval auch“. (Co-Autorin: Laís Clemente)

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