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Kann denn Merkel böse sein?

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Angela Merkel auf einem Protestplakat gegen Rüstungsexporte.
Angela Merkel auf einem Protestplakat gegen Rüstungsexporte. © imago/epd

Ja, es gibt Kritik am Taktieren und Lavieren der Kanzlerin, an ihrer bis zur Drögheit reduzierten Vermittlungs- und Redekultur und ihren fast Kohl‘schen Aussitzfähigkeiten. Doch die Kritik verhallt: Die Loyalität des Volkes zu Angela Merkel ist ungebrochen.

Von Peter Grottian

Heute ist Angela Merkel zehn Jahre im Amt. Nach eigener Einschätzung ist sie, wie sie selbst gesagt hat, bisher „ganz gut durchgekommen“. Erstaunlich ist: Über substanzielle Mängel der Kanzlerin werden keine anhaltenden oder zumindest gehaltvollen temporären Debatten geführt. Zwar werden einzelne Entscheidungen oder Nichtentscheidungen ihrer Regierung kritisiert, etwa das verspätete Anpacken der Flüchtlingsfrage und die Griechenlandpolitik, der NSA-Attentismus, die verschleppte Energiewende oder eine sozialpolitisch unvertretbare Belastung der jüngeren Generation. Höchst selten wird diese Kritik jedoch auf die Frau zugespitzt, die die politische Verantwortung trägt: auf Angela Merkel. Sie wird nicht haftbar gemacht.

Ja, es gibt Kritik am Taktieren und Lavieren der Kanzlerin, an ihrer bis zur Drögheit reduzierten Vermittlungs- und Redekultur und ihren fast Kohl‘schen Aussitzfähigkeiten. Die Zeiten, als Leute wunderliche Schlüsse von ihrer Frisur auf die Regierungsfähigkeit zogen, sind zwar glücklicherweise vorbei. Aber die rautenartige Händehaltung der Kanzlerin ist noch oft genug Gegenstand der symbolischen Erörterung. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern ist die Kritik an ihr eher stilistisch geprägt. Ob in der Politik, in den Medien oder bei Gesprächen am Kneipentisch – diese Kanzlerin wird selten attackiert, sie wird milde rezensiert.

Symbolische Erörterungen der Raute

Und häufig fallen die Rezensionen positiv, ja ehrfürchtig aus, dann umgibt sie ein Hauch von Zauberin, und je bescheidener sie sich inszeniert, desto lauter ist das staunende Ah! und Oh! des Publikums. Kritik an ihr bleibt Strohfeuer, sie entfacht keine ernsthaften Legitimationsprobleme. Daraus ist eine fast atemraubende Massenloyalität gewachsen: Die Kanzlerin scheint anders als ihre Vorgänger bei der Mehrheit kein sich anhäufendes Minuskonto zu haben, sondern nur ein Sparbuch, dessen Guthaben wächst.

In jedem Fall wird ihr konzediert, dass sie das Beste ganz pragmatisch versucht hat – wie immer das Ergebnis aussieht. Schon der glaubwürdige Versuch, ein Problem zu lösen, wirkt legitimationsstiftend und herrschaftssichernd. So werden minimalistische Erfolge in Minsk, Elmau oder Brüssel der Kanzlerin gutgeschrieben.

Es gibt zwei mögliche Erklärungsvarianten. Zunächst die für Angela Merkel angenehme: Sie ist einfach eine führungsstarke Kanzlerin ohne penetrantes männliches Machtgehabe, die wenig anbrennen lässt und sehr vieles richtig macht. Sie ist eine exzellente Strategin des Machtverfahrens. Das soll doch erst einmal ein anderer Regierungschef hinbekommen: Mit der Grexit-Keule den Griechen Tsipras gefügig machen, die Achse Paris-Berlin stabilisieren, Ost- und Südeuropa stillhalten – ohne bisher ein wirkliches humanitäres und infrastrukturelles Hilfsprogramm zu bieten.

Exzessives Machtverfahren vom Brutalsten hinter der großen Wolke der Alternativlosigkeit. Deshalb ist sie so unangreifbar und unangefochten. Sie ist das verantwortliche Gesicht der Großen Koalition. Sigmar Gabriel mag als Rumpelstilzchen aufstampfen, so viel er will, sogar der Bonus aus SPD-Projekten wird primär der Kanzlerin gutgeschrieben.

Merkel führt die Unionsparteien souverän. Die schwache parlamentarische Opposition aus Linken und Grünen hat erhebliche Schwierigkeiten, ihre oft berechtigte Kritik öffentlichkeitswirksam anzubringen. Merkel regiert geschickt im Konsens mit dem Volk: Die Bevölkerung fühlt sich in schwierigen Zeiten in guten Händen. Sie ist die fast geniale Resultante eines gesellschaftlichen Parallelogramms der Macht, einer bieder-sanften Macht, der zunächst nichts Böses unterstellt wird.

Die Deutschen kämen nicht auf die Idee, dass Merkel in die eigene Tasche wirtschaftet oder andere krummen Geschäfte macht. Ihr schlägt kein grundsätzliches Misstrauen entgegen. Die Deutschen würden es für eine abstruse Idee halten, Merkel eine Affäre anzudichten. Wie Hollande mit dem Roller durch Berlin – aber ich bitte Sie! Die Medien verbinden selten ihre inhaltliche Kritik an der Regierung mit einer auch personell festzumachenden Merkel-Kritik. Die EU versagt, die Bundesregierung versagt, ein Minister versagt. Merkel versagt, dieser Satz klingt dagegen seltsam fremd.

Es gibt eine zweite Erklärung, sie ist die für Merkel weniger angenehme: Sie leistet sich sehr wohl gravierende Fehlentscheidungen. Aber sie schafft es, sie entweder personell zu wattieren, umzuleiten auf andere Verantwortliche, auf andere Ebenen. Oder sie deutet Misserfolge und Niederlagen um. Aus ihnen werden „faire Kompromisse“ wie auf EU-Gipfeln, wenn die Kollegen ihr nicht gefolgt sind.

Debattenkultur ist auf den Hund gekommen

Ausgerechnet die ironische Bemerkung von Peer Steinbrück, jenes Kandidaten, der zuletzt ausschließlich ein Minuskonto hatte, ist charmant: Die Deutschen vertrauen Merkel blindlings als Pilotin, aber sie haben keine Ahnung, wo sie landen könnte. Zu ihrer Strategie gehört ein prinzipienfester Machtopportunismus und ein Machtverfahren ohne erkennbar eigene Substanz. Ihr Kompass ist die „marktkonforme Demokratie“, aber für was Merkel inhaltlich steht, für was sie sich besonders einsetzt, bleibt unklar. Merkel hat kein großes Thema, sie ist Akteurin auf einem getriebenen Themenkarussell. Merkel ist ein wandernder Vermittlungsausschuss ohne explizite Überzeugungen, geschweige gezügelten Leidenschaften. Der „Merkiavellismus“ lebt, um einen Begriff zu verwenden, mit dem der Soziologe Ulrich Beck ihre EU-Politik charakterisierte.

Die Debattenkultur ist deshalb ziemlich auf den Hund gekommen. Wenn eine Regierungschefin nicht auch in der Kritik steht, wirkt die Demokratie in seltsamer Weise verstockt. Ökonomisch-repräsentativen Absolutismus könnte man das nennen. Nur einiges aus dem Merkel-Sündenverzeichnis:

Sie hat die Gläubiger der Finanzmarktkrise laufen lassen und die Macht der Banken kaum eingeschränkt.

Sie hat ein neoliberales Disziplinierungsprojekt für Griechenland diktiert, das einen Bestrafungsduktus für Kleinkinder ähnelt und keine Dehnfugen eigener Lernprozesse ermöglicht. Ein humanitäres und interventionistisches Projekt fehlt.

Sie hat sich bei der EU-Jugendarbeitslosigkeit als kopflos, konzeptionslos und tatenlos gezeigt.

Sie hat ihre Ziele der vor sieben Jahren ausgerufenen Bildungsrepublik gründlich verfehlt – weder die Halbierung der Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss noch die Halbierung der Zahl von jungen Erwachsenen ohne Ausbildung – von der Verrottung der Hochschulen ganz zu schweigen.

Sie genehmigt klammheimlich Rüstungsexporte in Diktaturen, von denen man nicht weiß, ob sie demnächst die Gewehre und Panzer gegen die eigene Bevölkerung einsetzen.

Sie hat sich beim NSA-Skandal devot weggeduckt, was fast jede menschen- und grundrechtliche Identität vermissen lässt. Unter Freunden geht alles.

Solange die Gewerkschaften eher auf dem Schoß der Kanzlerin sitzen, um ihr Ohr zu erreichen, solange außerparlamentarische Bewegungen nicht mehr Druck auch mit zivilen Ungehorsamsformen machen, solange sich die Oppositionsparteien auf Merkel-Einzelkritik beschränken und solange die Medien ihrer kritisierenden Funktion nur eingeschränkt nachkommen, werden sich weder Merkel noch die Politik des Machtverfahrens ändern. Wer primär auf Machtverfahren setzt, wird die Erosion der Macht nicht aufhalten können – umso mehr, je länger die Machtausübung zum Machtverschleiß wird.

Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und in sozialen Bewegungen engagiert.

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