Jürgen Micksch über antisemitische und antimuslimische Gewalt in Deutschland: „Die Politik tut nie genug.“

Antimuslimische und antisemitische Gewalt gehören in Deutschland zum traurigen Alltag. Jürgen Micksch, Gründer des Abrahamischen Forums, über die Rolle der AfD, Rassismus in Institutionen und den Zusammenhalt der Religionen
Herr Micksch, ist Deutschland für Menschen mit jüdischem oder muslimischem Glauben ein guter Ort?
Obwohl sich in den vergangenen fünfzig Jahren vieles zum Guten entwickelt hat, ist die Situation für Muslime weiterhin sehr schwierig. Die Vorurteile sind ausgesprochen stark und der antimuslimische Rassismus ein großes Problem. Muslimische Frauen, die Kopftuch tragen, erleben das täglich. Dabei kann das Kopftuch ein Signal der Unterdrückung sein, ist es aber in der Regel nicht.
Der Islam gehört also noch immer nicht zu Deutschland?
Es gibt Teile in unserer Gesellschaft, die Muslime als zugehörig aufgenommen haben, aber der größere Teil denkt nicht so. Der Islam wird in Zusammenhang mit Terror gebracht. Sehr tief verwurzelt ist zudem die Sorge, dass er bei uns zu einer dominanten Religion wird – so absurd diese Vorstellung auch ist. Und an manchen Auslegungen des Koran gibt es ja auch berechtigte Kritik, zum Beispiel was Homosexualität angeht oder die Stellung der Frau.

Hat die Debatte um Geflüchtete 2015 die Lage verschärft?
Ja und Nein. Einerseits zeigte sich eine starke Polarisierung in Politik und Gesellschaft. Andererseits aber hatte die Bevölkerung durch die Geflüchteten sehr viel mehr Berührung mit Muslimen. Und wo es qualifizierte Kontakte gibt, werden Vorurteile in der Regel abgebaut. Deshalb sehe ich die Entwicklung insgesamt eher positiv.
Was man beim Antisemitismus nicht sagen kann. Der hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Erst kürzlich wurde ein junger Mann in Köln schwer verletzt, weil er eine Kippa trug.
Es ist erschreckend und macht mich sprachlos, dass es so viele antisemitische Vorfälle in Deutschland gibt. Legt man die bei der Polizei gemeldeten Taten zugrunde, kommen antisemitische Angriffe häufiger vor als antimuslimische. Obwohl wir Antisemitismus doch seit vielen Jahrzehnten politisch bekämpfen, in den Schulen Aufklärungsarbeit geleistet wird und der interreligiöse Dialog selbstverständlicher geworden ist.
Welche Rolle spielt die AfD bei dieser gefährlichen Entwicklung?
Die Partei ist auf das Thema draufgesprungen und bedient bereits vorhandenes rechtsextremes Gedankengut. Aber sie wirkt nicht prägend. Stärkeren Einfluss hat die AfD auf den antimuslimischen Rassismus. Dabei spielt für die öffentliche Wahrnehmung eine große Rolle, dass die Partei in den Parlamenten vertreten ist. Das verstärkt bei ihren Anhängern den Eindruck, dass sie die Mehrheit der Gesellschaft repräsentieren.
Wie kamen Sie auf die Idee, das Abrahamische Forum zu gründen, das das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen fördern will?
Ende des letzten Jahrhunderts gab es sehr viele Angriffe auf Synagogen und Moscheen. Ich wollte zu einem besseren Verhältnis von Juden und Muslimen beitragen. Damals sprach ich mit Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, und Nadeem Elyas, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime. Wir haben überlegt, wie jüdische, christliche und muslimische Menschen zusammenarbeiten könnten. Das gab es damals noch nicht. Die Entwicklung des Forums war durchaus schwierig, aber damit konnte sich in Deutschland eine neue Form der Kooperation erfolgreich etablieren.
Was macht das Forum in der Praxis?
Die Serie
Zur Bundestagswahl am 26. September will die FR denjenigen Gehör verschaffen, die sich auch jenseits der Parteien engagieren: für neue Formen des Wirtschaftens, die den Planeten nicht zerstören. Für wohnliche Städte, gesunde Ernährung, umweltfreundliche Mobilität. Für mehr politische Teilhabe und Gleichberechtigung.
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Auch Sie, die Leserinnen und Leser, können sich an unserer Serie beteiligen. Was wäre das erste, das die nächste Bundesregierung tun sollte? Schreiben Sie Ihre Antwort in einem bis drei Sätzen auf und schicken Sie sie an bundestagswahl21@fr.de Eine Auswahl veröffentlichen wir im Rahmen der Serie.
In der nächsten Folge geht es um Politik im Alter. Sie erscheint am Freitag, 10. September.
Zuletzt erschienen: eine Folge zum Thema Feminismus am Freitag, 30. August.
Alle Teile zum Nachlesen unter fr.de/bundestagswahl
Wir arbeiten in sogenannten abrahamischen Teams, das sind Juden, Christen, Muslime – seit kurzem auch Bahai – die in Schulen, Universitäten, bei der Polizei oder der Bundeswehr Veranstaltungen anbieten und über Themen diskutieren, die angefragt werden. Alle in den Teams haben eine Expertise: Es sind Pfarrer, Imame, Rabbiner, Wissenschaftler, Lehrer... Dabei ist der gemeinsame Auftritt entscheidend. Und dass die über 120 Leute, die zu den Teams gehören, Freundschaften entwickelt haben, die nach außen abstrahlen.
Mit Abraham als Stammvater Israels berufen Sie sich auf eine extrem patriarchale Erzählung. Wo bleiben die Frauen im Forum?
Mehr als die Hälfte der Mitwirkenden sind weiblich – auch wenn sich das erst mit der Zeit entwickelt hat. Dabei spielen Sara und andere Frauen aus der hebräischen Bibel als Identifikationsfiguren eine große Rolle. Inzwischen haben wir sogar reine Frauenteams. Wobei zu sagen ist: Im religiösen Bereich ist es leider normal, dass die Spitzenpositionen zwar fast immer von Männern besetzt sind, aber die praktische Arbeit von Frauen gemacht wird. Das gilt für Juden, Christen und Muslime.
Sie versuchen, das gesellschaftliche Zusammenleben über den religiösen Ansatz zu fördern. Aber stehen dem Miteinander tatsächlich religiöse Überzeugungen im Wege oder nicht vielmehr Fremdenfeindlichkeit und Rassismus?
Entscheidend sind die kulturellen Differenzen und die unterschiedlichen Prägungen, zu denen die Religionen beigetragen haben. Alle Religionen haben sich in Abgrenzung zu den anderen entwickelt. Das lässt sich sehr schön am Sonntag zeigen. Es gab den jüdischen Shabbat, also wählten die Christen den Sonntag und die Muslime den Freitag, um ihre Zeremonien zu feiern. Die Aleviten, als jüngste der Buch-Religionen, nahmen den Donnerstag.
In unseren multireligiösen Gesellschaften kann es heute aber nicht mehr um Abgrenzung gehen...
...eben...
Tut denn die Politik genug, um das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Religionen zu fördern?
Politik tut nie genug. Ich weiß aber zum Beispiel, dass CDU-Kanzlerkandidat Laschet an diesem Bereich ausgesprochen stark interessiert ist. Auch in den anderen politischen Parteien sind diese Themen angekommen – wenn auch sehr spät. In den 1970er und -80er Jahre wurden Konflikte mit Muslimen kaum beachtet. Doch dann hat ja Wolfgang Schäuble 2006 die Deutsche Islam Konferenz initiiert.
Die wird allerdings auch scharf kritisiert, und man fragt sich, was in den Jahren seit ihrer Gründung herausgekommen ist.
Ich finde diese Konferenz ausgesprochen erfolgreich. Früher wurde in unserer Gesellschaft geglaubt, man könne mit Muslimen nicht zusammenleben. Inzwischen wurde gelernt, miteinander zu sprechen. Das gilt auch für die unterschiedlichen muslimischen Gruppen, die heute zusammenarbeiten. Das alles ist schwierig und konfliktbeladen, dennoch führten diese Gespräche zu Ergebnissen. Denken Sie nur an die theologischen Fakultäten, die muslimische Religionslehrer für den Schulbereich ausbilden. Doch in einer multireligiösen Gesellschaft müssen wir weiterdenken. Wenn wir uns zu sehr auf den Islam konzentrieren, verstärken wir Vorurteile gegenüber Muslimen. Dasselbe gilt für die Juden. Die neuen „Digitalen Religionsgespräche“ mit neun Religionsgemeinschaften sollen da weiterführen.
Was fordern Sie von einer künftigen Bundesregierung?
In Polizei, Militär und Verfassungsschutz muss sich viel ändern. In allen drei Institutionen gibt es massive Probleme mit Antisemiten und antimuslimischen Rassisten. Außerdem muss die neue Bundesregierung die antirassistische, zivilgesellschaftliche Arbeit dauerhaft finanziell unterstützen. Und zwar ohne Extremismusklausel, wie sie die CDU wieder einführen will. Was soll der Generalverdacht und dieses Misstrauen gegenüber Einrichtungen, die sich für Demokratie engagieren?
Interview: Bascha Mika