Johnsons Breitseite für Brüssel
![Niemand weiß, wohin die britische Regierung wirklich steuert [Archivbild mit Johnson und Innenministerin Pratel (M.)].](https://www.fr.de/bilder/2022/06/16/91614620/29160130-niemand-weiss-wohin-die-britische-regierung-wirklich-steuert-archivbild-mit-johnson-und-innenministerin-pratel-3IuJYYg7Kkfe.jpg)
Der fragile Brexit-Vertrag könnte aufgekündigt werden – ein Handelskrieg wäre die Folge.
Die Brexit-Saga erlebt ihre nächste Folge: Im Streit um das Nordirland-Protokoll hat die EU-Kommission am Mittwoch zu einem juristischen Gegenschlag ausgeholt. Die Brüsseler Behörde wirft der britischen Regierung vor, internationales Recht zu brechen, und will dem durch ein Vertragsverletzungsverfahren Einhalt gebieten.
Die Regierung von Premierminister Boris Johnson hat ein Gesetzesprojekt vorgestellt, das EU-Kommissar Maros Sefcovic als „schlichtweg illegal“ ansieht. Es untergrabe die gemeinsame Vereinbarung über den Handel und den Warenverkehr in der britischen Provinz Irlands.
Das Nordirland-Protokoll ist Teil des Brexit-Vertrages von 2019. Es sieht vor, dass die zum Vereinigten Königreich gehörende Provinz weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion folgt. Damit sollen Warenkontrollen an der Landgrenze zum EU-Mitgliedsland Irland verhindert werden; die könnten nämlich die für den Norden wichtigen ökonomischen Bande zum Süden kappen. Und das wiederum könnte dem jahrhundertealten Dissens zwischen katholischem und protestantischem Bevölkerungsteil neues Leben einhauchen.
Die beiden Teile der Irischen Insel teilt seit 1923 eine völlig künstliche Grenze, an der es seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 – durch das der nordirische Bürgerkrieg beigelegt wurde – keine Kontrollen von Personen oder Waren mehr gibt. Die EU fürchtet, dass Londons neues Gesetz wieder zu einer harten Grenze und damit zu neuerlicher sektiererischer Gewalt führt.
Allerdings ist durch das Protokoll in der Irischen See quasi eine innerbritische Warengrenze entstanden, an der für Nordirland bestimmte Waren aus England, Schottland und Wales kontrolliert werden müssen. Das will London abstellen.
Die EU-Kommission hält das aber für das einzige Instrument, den EU-Binnenmarkt vor Importen nicht europäisch regulierter Waren zu schützen. 2021 seien in nordirischen Häfen zudem Waffen, Drogen und gefälschte Elektronikartikel beschlagnahmt worden, die möglicherweise in den EU-Binnenmarkt geschmuggelt werden sollten, sagten EU-Beamte am Mittwoch.
Trotz der Eskalation hat Brüssel zunächst nur Verfahren wegen Vertragsverletzung eingeleitet. London hat nun zwei Monate Zeit, sich wieder an das Protokoll zu halten. Kommissar Sefcovic zeigt sich verhandlungsbereit, lässt aber durchblicken, dass das Vertrauen der EU-Kommission in Johnson nicht mehr groß ist: „Seit Monaten ist Funkstille.“
Die Verfahren könnten vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) landen und mit einer Geldstrafe enden. Das Problem dabei: London droht, ein etwaiges Urteil des Luxemburger Gerichts gar nicht erst zu akzeptieren. Schließlich sei man kein Mitglied der EU mehr, so die Argumentation in Whitehall.
Sefcovic appelliert vorsorglich an Johnson, nicht erneut gegen internationales Recht zu verstoßen. Im Brexit-Abkommen sei klar festgelegt, dass der EuGH angerufen werden darf.
Sollte es zu keiner Einigung kommen, könnte die EU den Brexit-Vertrag ihrerseits kündigen. Dann würden unter Umständen Zölle auf britische Güter verhängt. Das käme einem Handelskonflikt zwischen der EU und dem Königreich gleich. Konkreten Fragen nach diesem Szenario wich EU-Kommissar Sefcovic am Mittwoch aus.