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Streik, Inflation, Handelskrieg: Boris Johnson steht zunehmend unter Druck

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Von: Sebastian Borger

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Im very English Devon (hier St Peter’s Church in Tiverton am Exe) wird man immer die Torys wählen, egal was die sich zuschulden kommen lassen. Oder wird man nicht? Geoff Caddick/AFP
Im very English Devon (hier St Peter’s Church in Tiverton am Exe) wird man immer die Torys wählen, egal was die sich zuschulden kommen lassen. Oder wird man nicht? © Geoff Caddick/afp

Nach dem knapp überstandenen Misstrauensvotum wird es erneut eng für Boris Johnson. Muss er sich bald wieder der eigenen Partei stellen?

London – Einfallsreichtum und schwarzen Humor wird man jenem Organisationsteam der britischen Konservativen zugestehen müssen, das für die diesjährige Sommerparty Ideen zum Eintreiben von Parteispenden zusammenstellte. Traditionell gehört eine Tombola dazu, bei der all jene Zeitvertreibe versteigert werden, die gelangweilten Superreichen so einfallen: Fuchsjagd, Safari, Tennis gegen Kabinettsmitglieder... Dafür fließen fünf-, oft sogar sechsstellige Summen in die Parteikasse.

Diesmal herrschte atemlose Spannung vor allem bei einem Angebot: ein festliches Abendessen mit Premier Boris Johnson – und den Ex-Premiers David Cameron und Theresa May. Wer die persönlichen Animositäten zwischen den Drei kennt, versteht leicht, warum das Stichwort vom „Höllen-Dinner“ die Runde machte. Immerhin hat die Gewinnerin hinterher viel zu erzählen, weshalb das zweifelhafte Vergnügen denn auch ordentliche 140.000 Euro einbrachte.

Der Regierungschef selbst fuhr nach seiner offenbar vergnüglichen Rede vom eigens angemieteten Victoria & Albert-Museum in die nahegelegene Serpentine Gallery. Dort hielt am selben Abend Alt-Medienzar Rupert Murdoch Hof – und den Verleger von „Sun“ und „Times“ umschwänzeln britische Premiers jeglicher Couleur stets so eifrig wie sonst kaum einen US-australischen Staatsbürger.

Neuwahlen in England könnten zum Problem für Boris Johnson werden

Johnsons Treffen mit Reichen und Mächtigen stünden ja in erstaunlichem Kontrast zu seinem Management des Streiks bei den Eisenbahnen, höhnte am Mittwoch Oppositionschef Keir Starmer im Unterhaus: „Kein einziges Mal hat er sich mit den Betroffenen getroffen. Er sollte nicht alle anderen für den Streik verantwortlich machen, sondern seinen Job erledigen.“ Der Labour-Boss stehe natürlich aufseiten der Streikenden, ätzte im Gegenzug der Konservative, „weil die Gewerkschaften seiner Partei Millionen zahlen“.

An diesem zweiten Streiktag, Donnerstag, bestimmen in zwei englischen Bezirken die Wahlberechtigten ihre neuen Unterhausabgeordneten. Das war nötig geworden, weil die beiden Torys für das post-industrielle Wakefield im Norden und den lieblichen Landkreis von Tiverton und Honiton in der Grafschaft Devon wegen Sexualdelikten zurücktreten mussten. Dennoch käme eine Niederlage für die Konservativen einer Sensation gleich und würde Johnson zwei Wochen nach knapp überstandenem Misstrauensvotum vor neue Probleme stellen.

Die Torys kämpfen in den beiden ganz unterschiedlichen Wahlkreisen gegen unterschiedliche Opponenten. Wakefield will Labour zurückerobern, bis 2019 war das Teil der treu-sozialdemokratischen „Red Wall“ – eine Ballung Dutzender von Wahlkreisen, die jahrzehntelang stets nur links tickten und wählten. Die zunehmende Entfremdung der alten Arbeiterpartei von ihrer Basis, vor allem aber der Brexit, den in Wakefield 60 Prozent unterstützten, haben der Tradition ein Ende gemacht. Ein Sieg in Wakefield wäre für Starmer die Bestätigung, dass sein moderater Kurs nach dem des stramm linken Alternativ-Veterans Jeremy Corbyn Früchte zeigt. Umgekehrt würde eine Niederlage Starmers Position noch wackeliger machen.

Boris Johnson unter Druck: „Eine Regierungspartei, die nicht regieren kann“

Tiverton und Honiton hingegen wählen seit Jahr und Tag unverdrossen rechts, 2019 holte der Mandatsträger 60 Prozent der abgegebenen Stimmen. Aber die Liberaldemokratische Partei entriss in den letzten zwölf Monaten den Torys bereits zwei stockkonservative Bezirke; auch in Devon gibt sich Parteichef Edward Davey vorsichtig optimistisch. Für Johnson wäre der Mandatsverlust dort eine massive Ohrfeige – und viele auf seinen Hinterbänken, die auf bislang als unantastbar geltenden Mehrheiten bauen, dürften darüber nachdenken, ob der Chef wirklich noch immer als Wahlzugpferd taugt, wie es dessen Propaganda unentwegt herumposaunt.

Steht womöglich sogar eine neue Vertrauensabstimmung in der Fraktion bevor? Unter jenen 41 Prozent, die schon zu Monatsbeginn gegen Johnson votierten, gibt es einige, die sich eine Statutenänderung wünschen. Bisher sehen die Regeln des zuständigen 1922-Ausschusses vor, dass ein einmal siegreicher Fraktionschef anschließend ein Jahr lang Schonzeit genießt. Eine Änderung wäre das klare Signal an den Chef: Deine Zeit läuft ab.

Einstweilen gibt sich Johnson unverdrossen. Weder der Rücktritt seines zweiten Ethikberaters binnen achtzehn Monaten noch bohrende Fragen nach angeblichen Jobangeboten an seine damalige Geliebte und heutige Ehefrau Carrie bringen ihn aus dem Konzept. Labour sei schuld am Bahnstreik, die EU am drohenden Handelskrieg, „globale Faktoren“ an der galoppierenden Inflation in Großbritannien von derzeit 7,8 Prozent – Johnson zufolge hat Johnson alles richtig gemacht. Eisig urteilt das konservative Wirtschaftsmagazin „Economist“ über die einst als brutal und pragmatisch geltenden Torys: „Eine Regierungspartei, die nicht regieren kann; eine wirtschaftsfreundliche Partei, die die Wirtschaft hasst; eine Populistenpartei mit unpopulärem Programm.“ Aber einfallsreiche Spendensammler, die haben die Torys noch. (Sebastian Borger)

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