„Johnson, Macron, stoppt das Feuer!“ – Streit zwischen London und Paris spitzt sich zu
An der Küste Frankreichs warten Tausende Menschen, die den Ärmelkanal nach Großbritannien bei gefährlichen Bedingungen überqueren wollen – es gibt Tote.
Calais – Den französischen Polizist:innen bot sich am Donnerstagmorgen (04.11.2021) ein desolates Bild, als sie in Wissant nahe Calais ein mit Wasser gefülltes Schlauchboot entdeckten. Daneben fanden sie zwei völlig unterkühlte Männer im nassen Sand vor. Neben ihnen einen Dritten – tot. Die französische Marine, Küstenwache und Seenotrettung hatten in der Nacht zuvor mit Hubschraubern und Schiffen fast 300 Migrant:innen in Lebensgefahr aufgegriffen. Sie hatten trotz tückischer Strömungen versucht, in behelfsmäßigen Booten die mindestens 28 Kilometer breite Meerenge zu überqueren. Oft kentern oder sinken die Gummiboote. Das hat diese Woche zu einem zweiten Todesfall geführt. Ein dritter Migrant gilt als verschollen. Ein Eriträer wurde außerdem am Donnerstag außerhalb von Calais von einem Regionalzug erfasst und getötet.
Im Hinterland von Calais warten derzeit mehrere Tausend Menschen auf die nächtliche Kanalüberquerung. 2016 hatte die französische Polizei ein Lager mit nahezu 10.000 Migranten, den sogenannten Dschungel, geräumt. Jetzt steigen die Zahlen wieder stark an. Seit Jahresbeginn haben laut französischen Quellen 20.000 Menschen die britische Kanalküste erreicht.

Ärmelkanal zwischen Großbritannien und Frankreich: Gefährliche Überfahrt in den „small boats“
Die neue Situation in Calais erklärt sich mit den zunehmenden Spannungen in Afrika und dem Mittleren Osten, aber auch dem Brexit: Die britische Regierung verstärkt seither die Kontrollen auf den Kanalfähren und im Zug durch den Eurotunnel. Die gefährliche Überfahrt in den „small boats“ – so der Jargon – bleibt die einzige Möglichkeit, um ins vermeintlich gelobte England zu gelangen.
London und Paris schieben sich die Schuld an der dramatischen Lage gegenseitig zu. Die britische Regierung wirft der französischen vor, sie missachte das bilaterale, noch vor dem Brexit geschlossene Abkommen von Le Touquet, laut dem Frankreich die Überfahrten schon an der Küste verhindern sollen; London liefert dafür kilometerlange Metallgitter und beteiligt sich finanziell an der Küstenüberwachung. Der französische Innenminister Gérald Darmanin wirft der britischen Seite dagegen seit Wochen vor, sie komme ihren Verpflichtungen nicht nach.
Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich – nicht nur beim Thema Fischerei
Der britisch-französische Migrationskonflikt greift noch tiefer als der jüngste ungelöste Fischereistreit im westlichen Teil des Ärmelkanals. Die Regierung in Großbritannien hegt den Verdacht, Frankreich lasse bewusst möglichst viele Migrant:innen über den Kanal, um sich für den Brexit zu rächen und dessen angeblich negative Konsequenzen aufzuzeigen. Das Londoner Newsportal „Politico“ zitierte dieser Tage aus einem Brief des französischen Premiers Jean Castex, der die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufforderte, „zu zeigen, dass es schädlicher ist, die EU zu verlassen, als darin zu bleiben“.
Der französische Abgeordnete Pierre-Henri Dumont hält in der BBC dagegen: „Wir müssen Tag und Nacht 300 bis 400 Kilometer Küste überwachen und können nicht alle 100 Meter einen Gendarmen hinstellen.“
Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour: „England hat die Brexit-Schlacht gewonnen“
Erschwerend kommt dazu, dass die beiden Hauptprotagonisten unter massivem Druck stehen – Boris Johnson, weil die Zahl der Menschen am Kanal trotz verschärftem Einwanderungsrecht sogar noch zugenommen hat; und Emmanuel Macron, weil er vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen auch innenpolitisch attackiert wird, er unternehme nichts gegen die Migranten in Calais und für die Fischerinnen und Fischer in der Normandie. „Überhaupt“, ätzte der Rechtsaußen und unerklärte Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour, „hat England die Brexit-Schlacht gewonnen.“
Macron warf Johnson in der „Financial Times“ sehr direkt vor, er halte sich nicht an die Verträge und lasse es an „Glaubwürdigkeit“ mangeln. Die Regionalzeitung „L’Est Républicain“ kommentierte gar, die Briten seien „unsere besten Feinde“, nachdem sie Frankreich schon in der U-Boot-Krise hintergangen hätten. Der ehemalige Botschafter in Paris, Sir Peter Ricketts, erklärte diese Woche, es sei „bestürzend“ zu sehen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Frankreich und dem Königreich verschlechtert hätten. „Johnson, Macron, stoppt das Feuer!“, appellierte er an beide Seiten. (Stefan Brändle)