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Jesidische Gläubige im Nordirak: „Hoffentlich geht es irgendwann nicht mehr um das Überleben“

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Von: Friederike Meier

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Diese Jesidinnen sind in einem Flüchtlingscamp in der Autonomen Region Kurdistan auf dem Weg zur Schule – ein Lichtblick.
Diese Jesidinnen sind in einem Flüchtlingscamp in der Autonomen Region Kurdistan auf dem Weg zur Schule – ein Lichtblick. © AFP

Journalistin Düzen Tekkal über die Lage jesidischer Gläubiger im Nordirak, den Terrorprozess gegen IS-Rückkehrerin Jennifer W. und ihre eigene Hilfsorganisation.

Frau Tekkal, Sie haben den Verein HÁWAR.help gegründet, der sich in Deutschland und im Nordirak für Jesid:innen einsetzt. Wie ist die Situation für die Jesid:innen im Nordirak?

Die Jesiden sind nicht nur Binnenflüchtlinge, ihnen sitzt dieser unaufgeklärte Völkermord im Nacken. Sie sitzen auf gepackten Koffern und warten in Camps auf eine ungewisse Zukunft. Der Frust nimmt immer mehr zu, weil sie sich nirgendwo erwünscht fühlen. Sie können nicht in die Heimatregionen, in die Ninewa-Ebene, weil diese immer noch umkämpft sind. Genau ein Prozent der Jesiden kann sich im Moment vorstellen, zurückzugehen, obwohl alle das so gerne täten. Auf der anderen Seite sind sie in Europa nicht willkommen. Das sehen wir gerade an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus. Viele Jesiden nehmen zudem die gefährlichen Mittelmeerrouten auf sich. Sie hätten alles Recht auf Asyl, aber es gibt keine sicheren Zugangswege, um auf europäischem Boden einen Asylantrag zu stellen.

Zur Person

Düzen Tekkal, 43, stammt aus einer jesidischen Familie. Ihre Eltern kamen in den 1970er Jahren aus der Südosttürkei nach Deutschland. Tekkal arbeitet als Journalistin und Filme-macherin. fme

Wie geht es den Menschen in den Camps für Binnenflüchtlinge?

Sie sind wie eingekesselt in diesen Camps. Mit verheerenden Folgen, auch was die Selbstmordrate angeht. Die Frauen, die in IS-Gefangenschaft waren, befreit worden sind und überlebt haben, haben nicht das Gefühl, dass sie frei sind. In diesem Jahr haben sich 34 Jesiden das Leben genommen. Das sind die dokumentierten Fälle. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Es fehlt außerdem an den einfachsten Dingen. Die elektrische Versorgung ist marode. Es kommt immer wieder zu Bränden aufgrund von elektrischen Kurzschlüssen. Für die Jesiden geht es irgendwann hoffentlich nicht mehr um das Überleben, sondern das Weiterleben. Aber um weiterzuleben, brauchen sie Repräsentanz, strukturelle Beteiligung an Machtprozessen, Vertreter im Parlament.

Sie betreiben ein Frauenzentrum im Nordirak. Was machen Sie dort?

Wir versuchen, etwas ganz konkret im Leben der Menschen zu verändern. Insbesondere der Frauen, weil wir festgestellt haben, dass die Frauen als Akteurinnen des Wandels eine ganz wichtige Rolle spielen. Wenn Frauen mehr Handlungsmöglichkeiten haben, kann das ganze Gemeinschaften zum Positiven verändern, weil es überkommene Rollenmuster aufbricht. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe. Es begann mit Nähkursen, aber mittlerweile sind wir bei Unternehmerinnen, bei Frauen, die ihr eigenes Business aufziehen.

Bei uns haben sie einen Ort, wo sie zusammenkommen. Sie bekommen Englischunterricht, werden auch aufgeklärt über sonst tabuisierte Themen. Wir versuchen, ganz konkret die Bedarfe zu ermitteln, die vor Ort da sind, und Abhilfe zu schaffen. Es gibt eine psychosoziale Betreuung. Das ist wichtig, da es noch nicht genügend Angebote zur Traumatherapie im Irak gibt. Das versuchen wir etwas aufzufangen. Obwohl wir – meine Schwestern und ich – die NGO gegründet haben auf der Asche des Völkermords und weil wir selbst Jesidinnen sind, ist jedes Projekt multireligiös und multiethnisch.

Die Jesid:innen

Das Jesidentum ist eine eigenständige Religion, die nur einen Gott kennt und den Dualismus von Gott und Teufel ablehnt. Es gibt keine religiöse Schrift, Traditionen werden mündlich übermittelt. Jesidische Gläubige werden schon lange verfolgt, unter anderem auch im Osmanischen Reich.

Die meisten Jesid:innen sprechen die kurdische Sprache Kurmandschi. Sie leben im Norden Syriens und in der nordirakischen Provinz Ninewa, dort vor allem in der Region Sindschar. Vor dem Völkermord im Jahr 2014 lebten hier 500 000 Jesid:innen.

IS-Dschihadisten überfielen am 3. August 2014 die Gegend um das Sindschar-Gebirge. Der „Islamische Staat“ trennte Jungen vom Rest der Familien und tötete diejenigen, die nicht zum Islam konvertieren wollten. Frauen und Kinder wurden entführt. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Taten im Jahr 2016 als Völkermord an der Religionsgemeinschaft.

Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, selbst eine Überlebende der IS-Gefangenschaft, wies in diesem Jahr darauf hin, dass noch immer 200 000 Jesid:innen in Flüchtlingslagern lebten und 2800 Frauen und Kinder noch immer in Gefangenschaft des IS seien. fme

Das heißt, es kommen auch Muslim:innen zu Ihnen?

Wir finden, dass diese Projekte nur mit muslimischen Frauen auch zukunftsfähig sind, auch wenn teilweise in der Ninewa-Ebene die muslimischen Nachbarn mit dem IS kollaboriert haben oder offen übergelaufen sind und es auch Ressentiments auf jesidischer Seite gibt. Aber plötzlich finden die Frauen über ein gemeinsames Schicksal zueinander, es entsteht eine Solidarität. Bei unserer NGO melden sich auch Eltern und Großeltern von Kindern, die der IS als Kindersoldaten rekrutiert hat. Sie fragen: Wie bekomme ich mein Kind zurück? Das ist ein großer Vertrauensbeweis. Ich war zuerst in einem richtigen Schock, als ich diese Anfrage bekam. Aber wir müssen das aushalten.

Im Oktober wurde die IS-Rückkehrerin Jennifer W. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie soll zugelassen haben, dass das jesidische Mädchen Rania verdurstete. Wie beurteilen Sie den Prozess?

Das Urteil ist ein Stück Gerechtigkeit, da hier zumindest in einem Fall Recht gesprochen wurde. Aber es macht zugleich klar, dass es noch unzählige weitere Fälle gibt, die nicht aufgearbeitet sind. Die IS-Überlebenden haben mir genau das geschrieben: Es reicht nicht. Das kann nur ein Anfang sein.

Der IS im Irak

Nach dem Ende des Irakkriegs und dem Sturz von Saddam Hussein wurde die irakische Armee von der US-Besatzung aufgelöst und ein politisches System etabliert, das auf konfessioneller Zugehörigkeit beruhte. Der Politikstil von Premierminister Nuri al-Maliki (2006–2014) trug dazu bei, dass die Spannungen zwischen Schiit:innen und Sunnit:innen angeheizt wurden und begünstigte den Aufstieg des sunnitischen „Islamischen Staats“.

Ab 2014 wurden etwa 40 Prozent des Iraks vom IS besetzt. Im Krieg konnten die irakischen Streitkräfte, unterstützt von einer internationalen Allianz, die Terrororganisation zurückdrängen. Im Dezember 2017 verkündete der irakische Ministerpräsident den Sieg über den IS. Der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete kommt allerdings nur schleppend voran. Mehr als eine Millionen Menschen leben noch immer als Binnenflüchtlinge.

Derzeit übt der IS keine Kontrolle mehr über irakisches Territorium aus. Allerdings ist das Land nach wie vor politisch instabil und der IS nicht besiegt: Berichten zufolge soll die Terrororganisation allein in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres mindestens 900 Anschläge verübt haben. fme

Was wünschen Sie sich dennoch an juristischer Aufarbeitung?

Es braucht ein internationales Straftribunal. Es könnte in Kurdistan oder im Irak angesetzt werden, wo die Verbrechen begangen wurden. Eine Ermittlungsbehörde der UN hat Beweise gegenüber 1400 Tätern gesichert. Es könnten viele Prozesse eröffnet werden.

Warum ist das so wichtig?

Juristische Aufarbeitung ist das Wichtigste, damit die Wunden der Überlebenden heilen. Deshalb hoffen wir, dass der Münchner und der Frankfurter Prozess weltweit zu Präzedenzfällen werden. Wir müssen Druck machen, damit das Schicksal der Jesiden nicht in Vergessenheit gerät.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Wir erleben immer wieder die Widerstandskräfte von denen, die überlebt haben. Farhad Alsilo zum Beispiel ist einer von vielen, die durch das Sonderkontingent in Deutschland eine Chance bekommen haben. Er war in IS-Gefangenschaft, hat seinen Vater verloren. Jetzt ist er in Deutschland und hat ein Buch geschrieben. Wir konnten ihm bei der Suche nach einem Verlag helfen. Eine andere Person ist jetzt Krankenschwester, eine andere arbeitet im Kindergarten. Es macht mich hoffnungsvoll, dass sie in ihre Selbstbestimmung gekommen sind, in ihre Freiheit.

Interview: Friederike Meier

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