Holocaust-Überlebende in Jerusalem: „Wir hatten keine Kindheit“

Die Zahl der Holocaust-Überlebenden wird von Tag zu Tag kleiner, etwa 10.000 sind es noch in Jerusalem. Wie geht es dieser letzten Generation, die noch Zeugnis ablegen kann?
Jerusalem - Die Plätze an den rot gedeckten Resopaltischen füllen sich. Erwartungsvolle Blicke richten sich auf Betty, die gerade Akkordeon und Gitarre auspackt und ihre Noten sortiert. Kekse, Sandwiches und Kaffee aus Einwegbechern gibt es hier, im Café Europa, sonntagnachmittags immer frei Haus, dafür sorgt die Jerusalem Foundation. Aber wenn dazu musikalische Unterhaltung geboten wird, kommen viele der betagten Stammgäste besonders gerne ins Gemeindezentrum Beit Yehudit in der Emek-Refaim-Straße. Zumal Betty, die das Durchschnittsalter des Publikums – geschätzt um die 80 plus – nur unwesentlich senkt, jede Menge Evergreens draufhat, auf Jiddisch, Hebräisch und Englisch. Songs wie „Yesterday“, bei dem fast alle mit einstimmen – „... all my troubles seem so far away“.
Man könnte meinen, es handele sich um einen gewöhnlichen Senior:innentreff, der in Nostalgie schwelgt. Nur sind die Besucherinnen und Besucher des Café Europa sämtlich Holocaust-Überlebende. Eine Erfahrung, die ihre Kindheit und Jugend geprägt hat, und die sie bis ins hohe Alter nicht loslässt. Jahrzehntelang haben nicht wenige von ihnen über ihre grauenhaften Erlebnisse geschwiegen. Meist, um die eigene Familie nicht zu belasten. Man wollte, ja musste doch funktionieren. Erst spät haben sie, oft auf das Drängen ihrer eigenen Kinder und Enkelkinder hin, erzählt, was sie durchgemacht haben. Das verbindet – so unterschiedlich ihre während der Judenverfolgung erlittenen Schicksale sind.
Das Café Moskau wendet sich speziell an russischsprachige Holocaust-Überlebende
Sich nicht allein zu fühlen, ohne viele Worte verlieren zu müssen, dafür ist das Projekt Café Europa da. Die einst von dem legendären, längst verstorbenen Bürgermeister Teddy Kollek gegründete Jerusalem Foundation organisiert solche Treffs mit wechselndem Programm – Vorträge, Ausflüge, gemeinsame Feiern – allwöchentlich in fünf Stadtteilen. Einer, Café Moskau, wendet sich speziell an russischsprachige Holocaust-Überlebende; ein anderer an Haredim, die streng Frommen, die auf Geschlechtertrennung Wert legen.
Eine jüdische Kippa trägt auch Georg Loewenstein, ein gebürtiger Berliner. Mit gemischter Gesellschaft hat der 88-Jährige jedoch kein Problem. Eigentlich findet er es auch ein wenig schade, dass „wir uns über unsere Geschichten im Café Europa sonst nur eins zu eins austauschen“. Seine ist die vielleicht erstaunlichste in der kleinen Runde, die nach Bettys Konzert ein paar Stühle zusammenrückt, um mit der deutschen Journalistin zu reden. Georg Loewenstein überlebte, weil seiner Familie die Flucht über die Meere auf die Philippinen gelang.

Doch erst ist Adele Judas, 86 Jahre alt, an der Reihe; eine zierliche, entschieden auftretende Frau mit akkurat gewellter Frisur. Sie ist auf Gehhilfe angewiesen und möchte ihre Tochter, die zum Abholen kommt, nicht warten lassen. Aber wenigstens in Kurzfassung will sie ihre Geschichte erzählen, die vor allem die ihres Mannes Kurt ist. Weil das, was ihm unter den Nazis angetan wurde, weit schlimmer sei als das, was sie selbst erlitten habe. „Mich“, berichtet Adele, „hat man mit sechs Jahren über den Stacheldraht in die Schweiz geschmuggelt“. Auch ihre Eltern konnten sich retten und kehrten nach 1945 zurück nach Antwerpen. Seine Eltern kamen in Auschwitz um, der Vater bereits 1942, die Mutter ein Jahr später. Kurt hatte sich während der Deportation versteckt und überlebte als einziger seiner aus Freiburg stammenden Familie.
Nach dem Krieg haben sich Adele und Kurt in den USA bei einem „blind date“ kennengelernt. Zwei, die sich fanden, auch weil ihnen beiden etwas Unwiederbringliches geraubt worden war – „unsere Kindheit“. Ein Satz, der so oder ähnlich immer wieder fällt in Interviews mit Holocaust-Überlebenden: „Wir hatten keine Kindheit.“
In Jerusalem leben von denen, die Hitlers Endlösung entgingen, ob in Lagern, Gettos, im Versteck oder auf der Flucht, noch etwa 10.000 Menschen, in ganz Israel rund 160.000. Geschätzt kommen weltweit einige Tausend hinzu. Die genaue Zahl lässt sich schwer ermitteln, sie sinkt rapide von Jahr zu Jahr. Aber fast alle waren noch im Kindesalter, als sie Traumatisches erleben mussten wie Zwangstrennung von den Eltern, Hunger, Gewalt, Todesängste, Mord, Menschenverachtung in all ihren Facetten.
Fünf Jahre war Georg alt, als sich die Loewensteins auf ein Schiff nach Manila retten konnten
Jahrzehntelang glaubte man, dass Kinder weniger bleibende Erinnerungen hätten oder damals einfach zu jung gewesen seien, um Langzeitfolgen davonzutragen, schreibt Natan Kellermann in seinem 2009 in den USA erschienenen Buch über „Holocaust Trauma – Psychological Effects and Treatment“. Dabei ließen sich unter den „child survivors“ noch im fortgeschrittenen Alter höhere Anteile an posttraumatischen Stresssymptomen feststellen als in gleichaltrigen Vergleichsgruppen. Nie einfach nur Kind gewesen zu sein, das spielerisch die Welt erkundet, hinterließ bei vielen eine innere Leere, wie man auch aus den heutigen Kriegs- und Katastrophengebieten weiß.
Zurück zu Georg Loewenstein, dessen Eltern und Großeltern 1939 gerade noch rechtzeitig ihre Koffer in Berlin-Charlottenburg gepackt hatten, zwei Wochen vor Kriegsausbruch, dem deutschen Überfall auf Polen. Fünf Jahre war Georg alt, als sich die Loewensteins auf ein Schiff nach Manila retten konnten. Für sie wie für rund 900 andere jüdische Familien waren die von Japan besetzten Philippinen in den ersten Jahren ein halbwegs sicherer Zufluchtsort. Angesichts des Hakenkreuzes in ihren Pässen – das eingestempelte „J“ sagte ihnen offenbar nicht viel – ließen die Japaner sie zunächst in Ruhe. „Da hat Hitler uns gutgetan“, bemerkt Loewenstein sarkastisch.
„Es gab tausend Tote, erstochen mit Bajonetten, auch drei Angehörige kamen um“
„Doch 1944 traf ein Brief aus Nazi-Deutschland ein, uns alle zu verhaften. Wir sind aus dem brennenden Haus weg durch die Hintertür und haben uns unter einem Blechdach versteckt. Es gab tausend Tote, erstochen mit Bajonetten, auch drei Angehörige kamen um.“ Dem Rest der Familie gelang es, sich zu den vorrückenden US-Amerikanern durchzuschlagen.
Nach Kriegsende ging Loewenstein in die USA, baute sich eine Existenz auf, erst in New York, später in Florida. Dort gab es auch ein Oktoberfest mit bayrischem Bier. „Ich bin jedes Jahr hingegangen“, erzählt er in seinem amerikanisch gefärbten Deutsch. Er wolle ja seine Muttersprache nicht vergessen, „aber ich denke jetzt auf Englisch“.
Erst vor zwei Jahren haben sich Loewenstein und seine Frau zur Aliya entschlossen, zur Einwanderung nach Israel. Da sei er nicht der Einzige, sagt Deborah Shalom, die Sozialarbeiterin im Café Europa. Es gebe einige, die noch in ihren hohen Achtzigern ins Land kommen. Und sei es auch nur, „um ihre letzten Lebenstage in einem jüdischen Staat zu verbringen und hier bestattet zu werden“.
Gedenken
Seit 1996 ist der 27. Januar in der Bundesrepublik der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Das Datum erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet.
In der DDR wurde der 27. Januar mit Blick auf die Rolle der Sowjets bei der Auschwitz-Befreiung begangen. Im Jahr 2005 erklärten die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament den Tag zum internationalen Holocaust-Gedenktag. Die zentrale Gedenkveranstaltung findet jeweils im Bundestag statt. An vielen öffentlichen Gebäuden wehen die Flaggen an diesem Tag auf Halbmast. FR
Für die Loewensteins waren es die in Israel lebenden Kinder samt neun Enkeln und vier Urenkeln, die den Ausschlag gaben. „Du hast doch schon einen Fuß hier, Saba“ (hebräisch für Opa), hat ihm einer seiner Enkel gesagt und auf den eingravierten großväterlichen Fußabdruck am Denkmal der Offenen Türen in Rishon Le-Zion verwiesen, welches an die Aufnahmebereitschaft, damals in den Philippinen, erinnert. „Wann kommt ihr ganz?“
Für nicht wenige Überlebende zählt es zum größten Glück, im hohen Alter auf möglichst zahlreichen Nachwuchs blicken zu können. Aber das, was gerne und oft „unsere späte Rache an Hitler“ genannt wird, „gilt längst nicht für jeden“, weiß Deborah Shalom von ihren Hausbesuchen bei jenen, um die sich sonst kaum jemand kümmert. Viele aus der letzten noch lebenden Generation, die der Shoah entkam und an den Gedenktagen wie jetzt zur Befreiung von Auschwitz in die mediale Aufmerksamkeit rückt, sind vereinsamt und auch verarmt.
In ganz Israel gibt es 50 solcher NGO, eine der größten ist Amcha
Meist kommt beides zusammen: weder Verwandte noch Kinder zu haben und zudem keine ausreichende Opferrente. Man kann sich leicht verheddern im Gestrüpp der „Wiedergutmachungsbürokratie“, bei der es zum Beispiel einen Unterschied macht, ob jemand vor oder nach 1952 ins Land kam. Oder ob sich belegen lässt, wie von der Bundesrepublik verlangt, wo genau die oder der Betreffende sich vor den Nazi-Häschern versteckt hielt. Sich in einer Gartenhütte verkrochen zu haben, lässt sich nun mal schwerer nachweisen als Zwangsaufenthalte in Gettos und Konzentrationslagern.
Schlechter gestellt sind in aller Regel auch jene russischsprachigen NS-Verfolgten, die nach dem Fall des Eisernen Vorhang nach Israel emigrierten. „Ob Überlebende unter die Armutsgrenze rutschen, hängt nicht so sehr davon ab, was sie während des Holocausts erlitten haben, sondern wo sie ihr Leben nach dem Krieg verbracht haben“, konstatiert Sozialarbeiterin Shalom.
Umso mehr kommt es auf die nicht-staatlichen Stellen an, die Holocaust-Überlebende unterstützen, sozial, psychologisch, juristisch und in Notfällen auch finanziell. 50 solcher NGO gibt es in ganz Israel, eine der größten ist Amcha mit landesweit 15 Zentren, 500 Therapeut:innen und 600 Freiwilligen, die wöchentlich ihre jeweiligen, oft bettlägerigen Schützlinge besuchen. Amcha, das war das Codewort unter jüdischen Verfolgten, um einander zu erkennen. Wörtlich übersetzt heißt es „dein Volk“ und soll so viel bedeuten wie: du bist eine(r) von uns.

„Unsere Sozialclubs“, sagt Martin Auerbach, der klinische Leiter von Amcha, „sind für unsere Klientel wie ein zweites Zuhause.“ Wenn er, so wie an diesem Morgen, gegen neun Uhr seinen Arbeitstag in der Jerusalemer Amcha-Zentrale in der achten Etage eines älteren Bürohauses beginnt, sitzen die Ersten bereits nebenan im Gemeinschaftsraum, holen sich einen Kaffee und werfen einen Blick in die Zeitung. Harry Chimpovzci, 82 Jahre alt, ist fast jeden Tag da, meist schon zum Frühstück, wie er sagt. „Hierher zu kommen, ist meine einzige Beschäftigung, seitdem meine Frau vor einem Jahr gestorben ist.“
Harry Chimpovzci stammt aus Transnistrien, diesem Landstrich zwischen Moldau, Rumänien und der Ukraine, in den die deutschen Wehrmachtstruppen 1941 eingedrungen waren. Er hatte – nicht viel älter als ein Jahr – gerade laufen gelernt, als ihre Schergen die Juden auch dort in die Lager trieben. „Damit die Leute vor Hunger sterben oder an Typhus. So wie meine Großmutter, ich hatte sie angesteckt.“ Das weiß er von seiner Mutter; aber eigentlich, sagt Chimpovzci, „mochte sie nicht über den Holocaust sprechen“.
In seinem Gedächtnis ist jene Zeit als dunkles Loch abgespeichert. An eines aber erinnere er sich noch genau. Das war, „als die Russen uns 1945 befreiten. Sie gaben mir eine kurze Jacke, Hose und Schuhe“ – etwas, das er bis dahin nie besessen hatte. „Ich wollte sie auch nachts nicht mehr ausziehen.“
Heute fühlen sie mit den ukrainischen Flüchtlingen, die nach Israel gekommen sind
Unter den Holocaust-Überlebenden aus Transnistrien, die bei Amcha gerne zusammensitzen, ist öfters zu hören: „Die russischen Befreier waren wie Engel.“ Das hält sie aber nicht davon ab, heute mit den ukrainischen Flüchtlingen zu fühlen, die seit Putins Angriffskrieg nach Israel gekommen sind. Auch wenn viele Ukrainer sich damals noch schlimmer als die deutschen Besatzer aufgeführt hätten.
„Ich habe begonnen zu vergessen, aber man kann nicht“, sagt Melitta Trestian, 85 Jahre alt, und erzählt von einem Erlebnis, das sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hat. Wie sie sich mit der Mutter unter dem Stacheldraht aus dem Getto geschlichen habe, um bei Bauern einen Kanten Brot zu erbetteln. Wie sie auf ein Licht zugegangen seien, aber die Ukrainerin, die die Tür öffnete, sie angeschrien und ihr die Ohrringe abgerissen habe. Melitta Trestian sucht nach Worten. „Ich habe diese Momente … Depressionen, aber ich habe auch gelebt.“
Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden, erst recht nicht als traumatisch Erlebtes. Der Holocaust spiegelt sich in vielen Millionen verschiedener Schicksale. Eine Opferkonkurrenz – „bei euch war es nicht so schlimm wie bei uns“ – relativiert eher noch das Leiden. „So unterschiedlich die Lebensläufe sind“, sagt Auerbach, der Amcha-Cheftherapeut, „bei uns wird genauso das Verbindende erlebt. Das ist paradox, aber psychologisch hilfreich.“ Denn darum geht es, sowohl in den Amcha-Sozialclubs als auch beim Café Europa: zu merken, „ich bin nicht allein“. (Inge Günther)