Jagd auf den "Putsch-Drahtzieher"

Türkische Medien veröffentlichen die Adresse des angeblichen "Putsch-Drahtziehers" in Berlin-Neukölln. Der 51-Jährige wird in Sicherheit gebracht.
Ein typisches, renoviertes Gründerzeithaus im Türkenkiez von Berlin-Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg: Dort soll der meistgesuchte Mann der Türkei in einer Hinterhofwohnung untergetaucht sein. Der 51-jährige Adil Öksüz, den türkische Staatsanwälte als mutmaßlichen Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 verdächtigen, soll von einem Netzwerk der islamischen Gülen-Sekte in Berlin versteckt worden sein. Das berichteten türkische Medien, nachdem die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch gemeldet hatte, dass sie mehrere Hinweise auf das Versteck von Öksüz erhalten habe. Inzwischen publizierte praktisch die gesamte türkische Presse die komplette Adresse des Verdächtigen.
Laut dem Anadolu-Bericht wurde die Berliner Wohnung nicht nur von Öksüz, sondern auch anderen geflüchteten Gülenisten benutzt. Ali A., ein in Berlin ansässiger türkischer Geschäftsmann mit vermeintlichen Gülen-Verbindungen, habe der Gruppe Geld gegeben, um die Wohnung zu mieten. Türkische Fernsehteams suchten das vierstöckige Wohnhaus auf und klingelten an der genannten Wohnungstür, doch öffnete ihnen niemand.
In der Türkei schlägt die Nachricht hohe Wellen. Am Mittwoch bestätigte Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Meldungen über die Berliner Sichtung von Öksüz. „Anscheinend stimmen die Angaben überein“, sagte er laut türkischen Medien. „Wir haben die deutschen Behörden kontaktiert und um Amtshilfe gebeten.“ Cavusoglu behauptete auch, dass Öksüz’ mutmaßlicher Aufenthaltsort den Berliner Ämtern bekannt sei. Deutsche Behörden äußern sich zu dem Fall nicht offiziell. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau hat Öksüz jedoch tatsächlich in dem Haus in Neukölln gewohnt. Er wurde inzwischen von Personenschützern des Berliner Staatsschutzes in Sicherheit gebracht.
Erhebliches Konfliktpotenzial
Der Fall birgt erhebliches neues Konfliktpotenzial für die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland. Ankara wirft der Bundesrepublik vor, Hunderten gesuchter Putschisten Asyl zu gewähren. Zwar zitierte die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“ den türkischen Innenminister Süleyman Solu am Mittwoch mit den Worten, dass sich „Deutschlands Haltung gegenüber dem Putschversuch in den letzten drei bis vier Monaten geändert“ habe und die deutschen Behörden „jetzt mit der Türkei bei dem Versuch, den Verdächtigen zu fassen, kooperieren“. Und Anadolu meldete unter Berufung auf „diplomatische Quellen“, dass die deutsche Polizei sogar aktiv nach Öksüz gesucht habe. Doch nach einem Bericht des Berliner „Tagesspiegel“ hat das Bundesjustizministerium eine Verhaftung und Auslieferung von Öksüz abgelehnt.
Die Türkei hatte den Gesuchten 2016 über Interpol mit Haftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben und nach Informationen über seine angebliche Flucht nach Baden-Württemberg bereits im vergangenen August einen Auslieferungsantrag gestellt, der jetzt erneuert wurde. Damals sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin, dass man nichts über Öksüz’ möglichen Aufenthaltsort wisse. Falls es weitere Ermittlungen gab, wurde nichts darüber bekannt.
Der islamische Theologe Öksüz wird von der türkischen Justiz beschuldigt, während des Staatsstreichs als gülenistischer „Imam“ versucht zu haben, das Kommando über die türkische Luftwaffe an sich zu reißen. Die Regierung in Ankara wirft der Sekte des in den USA lebenden, greisen Islampredigers Fethullah Gülen vor, den Putsch organisiert und geleitet zu haben, was Gülen abstreitet. Im Auftrag der „Fethullahistischen Terrororganisation“ (Fetö) seien sogenannte „Imame“ wie Adil Öksüz als Putschkommandeure für die einzelnen Waffengattungen und Armeestützpunkte eingesetzt worden. Sie hätten dann gülenistischen Offizieren Befehle erteilt.
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Tatsächlich ist Öksüz auf Videobildern aus der Luftwaffenbasis von Ankara in der Putschnacht zu sehen. Zivilisten haben auf dem Stützpunkt aber nichts zu suchen. Als loyale Truppen den Putsch in den Morgenstunden des 16. Juli 2016 niederschlugen, wurde Öksüz außerhalb der Basis kurzzeitig festgenommen, aber von einem Richter wieder freigelassen. Der Richter soll auch zur Gülen-Bewegung gehören, sitzt inzwischen in Untersuchungshaft und ist angeblich geständig.
Adil Öksüz aber verschwand. Bis jetzt gab es keine belastbaren Hinweise, wie dem unscheinbaren Theologen die Flucht gelang. Die türkische Presse bezeichnet ihn als „Nummer 2“ des Gülen-Netzwerks. Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-neoliberale AKP-Regierung betrachten Öksüz als das „missing link“, die direkte Kommandoverbindung der Putschisten zu Gülen. Deshalb liegt Ankara viel daran, den Flüchtling zu fangen; auf ihn ist ein Kopfgeld von rund einer Million Euro ausgesetzt.
So überraschend die Anadolu-Enthüllungen sind, so auffällig ist ihr Zeitpunkt zehn Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Bemerkenswert ist auch ein weiterer Anadolu-Filmbericht über Öksüz’ in den USA lebende Ehefrau Aynur, die erstmals im Bild gezeigt wurde. Laut Umfragen schwächelt Erdogan und kann positive Nachrichten und einen Themenwechsel des um die Wirtschaftskrise kreisenden Wahlkampfes gut gebrauchen. Die Festnahme und mögliche Auslieferung des mutmaßlichen Putschführers wäre ein „Geschenk Gottes“, wie er damals den Putschversuch nannte.
Doch merkwürdig: Vor exakt einem Monat hatte Koray Aydin, ein Sprecher der neuen oppositionellen türkischen „Guten Partei“ der Presse gegenüber behauptet, dass die Regierung Öksüz gefangen und wieder freigelassen habe. „15 Tage vor den Wahlen werden sie vorgeben, dass sie ihn gefunden haben“; wurde Aydin von der Oppositionszeitung „Sözcü“ zitiert. „Dann wird Öksüz einige Politiker der Guten Partei und der (sozialdemokratischen) CHP beschuldigen, Fetö unterstützt zu haben.“ Der erste Teil der Prognose hat sich jetzt bewahrheitet. Würde sich auch der Rest bestätigen, könnte dies die Wahlen entscheidend beeinflussen. (Frank Nordhausen)
Am 15. Juli 2016 scheiterte der Putschversuch gegen das Erdogan-Regime in der Türkei. Im Anschluss wurden Tausende Richter und Staatsanwälte verhaftet, auch Hülya und Mehmet Özkan, die jetzt in Deutschland im Exil leben. Sie sagen: „Auch das System Erdogan wird untergehen“.