Ist der Herztod der falsche Tod?

Fachleute stellen das Verbot von Organentnahmen nach dem Herztod infrage: Es macht den Spendewunsch vieler Sterbender unerfüllbar
In Deutschland galten Organspenden Verstorbener nach Herzkreislauf-Tod lange als indiskutabel. Nur Spenden nach Hirntod, dem irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen, sind hier bisher erlaubt. Doch das Tabu ist dabei, sich aufzulösen.
Knackpunkt der Debatte in Medizin und Ethik: Was akzeptieren wir als sicheren Todeszeitpunkt, ab dem Organe entnommen werden können? Die Organvermittlungszentrale Eurotransplantat hatte schon 1998 erklärt, ein Herzstillstand für zehn Minuten sei ein „Äquivalent zum Hirntod“. Organe aus sogenannten DCD-Spenden (donation after cardiocirculatory death, also Organspenden nach Herzkreislauftod) sind im Eurotransplantverbund inzwischen verbreitet, sie dürfen in Deutschland aber nicht verwendet werden. Ablehnung kam in der Vergangenheit vor allem von Bundesärztekammer und Ärztetag, sie zweifelten, dass das Herzversagen unumkehrbar sei. Der Ärztetag schrieb 2007, jede auch nur zeitweise erfolgreiche Reanimation zeige, dass der Herzstillstand kein sicheres Todeszeichen vor Organentnahme sei. Auch der Deutsche Ethikrat sprach sich 2015 mehrheitlich gegen DCD-Spenden aus.
Mittlerweile aber rücken immer mehr Mediziner:innen von dem pauschalen Nein ab. Sie sehen, wie auch Frank Erbguth, langjähriger Chef der Neurologie an Klinikum Nürnberg, inzwischen „gute Gründe, auch DCD-Spenden in Erwägung zu ziehen“. Anlass dazu sind nicht nur die anhaltend niedrigen Organspenderzahlen in Deutschland. Ebenso so schwer wiegt das neue Nachdenken über die Autonomie am Lebensende.
Organspende: Immer mehr Menschen haben eine Patientenverfügung
Immer mehr Menschen haben eine Patientenverfügung, sie wollen bei aussichtsloser Erkrankung keine künstliche Lebensverlängerung durch Apparate. Sterben zulassen und nicht Leiden verlängern – das ist das neue Paradigma, dem die Intensivmedizin folgen muss. Frank Erbguth, der auch Präsident der Deutschen Hirnstiftung ist, sagt der FR: „Das Ende der lebenserhaltenden Therapie hat sich deutlich verschoben.“ Es folgt heute oft bereits, wenn eine infauste (aussichtlose) Prognose gestellt ist, und nicht erst nach dem festgestellten Tod.
Hinzu kommt, was das Bundesverfassungsgericht 2020 entschieden hat: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“ Heißt: Der Patientenwille zählt. Muss das nicht auch für den Wunsch gelten, postmortal Organe zu spenden? Den nämlich kann die Medizin nach deutschem Recht meist nicht erfüllen. Denn nur wenige Sterbende auf der Intensivstation erleiden einen Hirntod, die meisten sterben an Herz-Kreislauf-Versagen nach Therapieabbruch.
Mediziner Klaus Michael Lücking, Organspendebeauftragter an der Uniklinik Freiburg, verweist auf die Praxis: „Wir haben viele Patienten mit Spenderwunsch, wo wir den Angehörigen sagen müssen: Wir dürfen es nicht. Wir dürfen keine Organe entnehmen, weil es nach Herztod verboten ist.“ Für Lücking folgt daraus vor dem Hintergrund des Karlsruher Urteils: „Es ist ethisch nicht mehr vertretbar, uns dem Thema DCD-Spende weiter zu verweigern.“
Zwei Formen der DCD
Bei Organspenden nach Herzkreis- lauftod, sogenannten DCD-Spenden, wird unterschieden zwischen der kontrollierten und der unkontrollierten Form. Manche Länder erlauben beide Formen, manche nur die kontrollierte (siehe nebenstehende Grafik).
Bei kontrollierter DCD tritt der Herz-Kreislaufstillstand auf der Intensiv-station ein, nachdem aufgrund einer aussichtlosen ärztlichen Prognose die lebenserhaltende Therapie beendet wird. Bis zum Therapieabbruch ist Zeit, etwa um den Patient:innenwillen zu erfragen und die Organe zu evaluieren.
Zur unkontrollierten DCD kann es kommen, wenn ein Patient erst nach Herzstillstand und erfolgloser Reanimation in der Klinik eintrifft. Hier herrscht mehr Zeitdruck für die genaue ärztliche Prognose ebenso wie für die Abklärung des Spenderwillens und die Prüfung der Spenderorgane. Auch haben die Organe wegen des Durchblutungsmangels unter Um- ständen bereits Schaden genommen.
Die Zahl der Transplantationen hat sich in Ländern, die DCD-Spenden erlaubt haben, teils deutlich erhöht – vor allem, wenn auch unkontrollierte DCD zugelassen sind. In den Nieder- landen etwa liegt der Anteil der Spenden nach Herztod bei mehr als der Hälfte, in Großbritannien, Spanien und den USA zwischen etwa 20 und 40 Prozent. rü
Das Thema treibt die Intensivmedizin um. Deutlich spürbar war das große Interesse beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) im Dezember. Die Mainzer Medizinethikerin Gertrud Greif-Higer, vor Jahren noch erklärte Gegnerin von DCD-Spenden, bekannte in ihrem Vortrag: „Die meisten Argumente für DCD-Spende leuchten mir heute ein.“
Eines davon: Bei den allermeisten Todesfällen in Deutschland wird der Tod durch Herz-Kreislauf-Versagen festgestellt. „Der Herzkreislauf-Stillstand ist heute als sicheres Todeszeichen allgemein akzeptiert und wissenschaftlich anerkannt“, so Greif-Higer. Aber eben nicht als Voraussetzung für Organspenden. Sie plädierte mit Blick auf den Karlsruher Spruch energisch dafür, „das Gewicht auf den Wunsch des Patienten zu legen“. Dann könne, aus ethischer Sicht, „bei permanentem Herzstillstand eine Organentnahme vor dem irreversiblen Organversagen erfolgen – wenn der Patient das wollte“.
Die Diskussion, wie genau das umzusetzen wäre, fängt gerade erst an. Verschiedene Fachgesellschaften versuchen seit kurzem, sich über gemeinsame Standards zu verständigen. Anschauungsbeispiele in anderen europäischen Staaten haben sie genug. Dabei gelten die Regelungen in der Schweiz und Österreich zur sogenannten kontrollierten DCD-Spende (siehe Box) als mögliche Vorbilder.
Organspende: Der grundsätzliche Ablauf bei kontrollierter DCD ist in allen Ländern ähnlich
Der grundsätzliche Ablauf ist bei kontrollierter DCD in allen Ländern ähnlich: Am Anfang muss eine aussichtslose Prognose stehen. Erst dann wird der Spenderwunsch evaluiert. Dann folgt der Therapieabbruch, ab dem häufig Heparin gegeben wird, um Thrombosen zu verhindern. Er führt nach einer Weile zum Herz-Kreislaufstillstand. Danach beginnt die für die Todesfeststellung wichtige „No-touch-time“: die Zeit, in der der sterbende Mensch nicht berührt werden darf. Sie gilt als Garant, dass endgültig kein Blut mehr im Gehirn fließt, also alle Hirnfunktionen erloschen sind. In den meisten Ländern sind fünf bis zehn Minuten „No-touch-time“ vorgeschrieben, in Italien sogar 20 Minuten. Es folgen neurologische Tests zur Todesabsicherung, erst dann die Organentnahme.
Neurologe Erbguth bestätigt: „Fünf bis zehn Minuten nach dem Herz-Kreislaufstillstand können wir vom permanenten Hirnzirkulationsstillstand ausgehen.“ Dieser und damit der komplette Hirnfunktionsverlust seien zugleich unumkehrbar, denn eine Wiederbelebung ist ja wegen der infausten Prognose oder einer Patientenverfügung nicht gewollt. Erbguth sieht darin ein „sicheres Todeskriterium für eine kontrollierte DCD-Spende“. Er wirbt für eine „offene und transparente Debatte“ über diesen Weg. Das tut auch Intensivmediziner Lücking, der zugleich Sprecher der Divi-Sektion Organspende ist. Der Mangel an Spenderorganen jedenfalls wäre in seinen Augen durch DCD-Spenden eher zu überwinden als mit einer Widerspruchslösung. „Vor allem aber könnten wir deutlich mehr Sterbenden ihren Spenderwunsch erfüllen.“